Jonny machte sich von der leichtbekleideten Blondine los, die sich immer noch angsterfüllt an sein Hemd klammerte. Doch so sehr er sich beeilte, er konnte den Entführter mit seiner Liebsten nicht mehr entdecken. An der Rezeption sah er, dass die Anlegestelle einladend dalag, die Eingangstür zum Schiff weit geöffnet. An der Tür lag ein bewusstloser bulgarischer Matrose mit blutüberströmtem Kopf, ganz offensichtlich rücksichtslos überrannt oder niedergeschlagen von jenem Monster, das seine Angelika geschlagen und mitgeschleppt hatte.
Er erinnerte sich, dass jedem Passagier der Notrufknopf gezeigt worden war, der in einem Unglücksfall gedrückt werden konnte. Um Alarm auszulösen. Als erstes erschien der Kapitän, der im Ruderhaus auf die Anlieferung der Vorräte gewartet hatte, um anschließend sofort ablegen zu können. Sie hatten schon genug Zeit verloren, er würde versuchen, die verlorenen Stunden aufzuholen.
Und nun das!
Nach und nach versammelten sich die Passagiere im Eingangsbereich, aufgeschreckt durch den grellen Ton der Alarmglocke, die über Lautsprecher in jeder Kabine zu hören war. Da diese Menschenschar den Zugang, aber auch das Verlassen des Schiffes behinderte oder gar zeitweise unmöglich machte, bat sie Frau Huber, die unscheinbare, im Hintergrund wirkende Reiseleiterin, in die Lounge, wo auf Veranlassung des Kapitäns die Bar erneut geöffnet wurde, um für ein wenig Abwechslung und Erfrischung zu sorgen.
Inzwischen waren auf Befehl von Stojanow mehrere Besatzungsmitglieder von Bord gegangen, um sich in der Umgebung umzusehen. Was allerdings wegen der nächtlichen Dunkelheit wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Jonny, der sich den Crewmitgliedern angeschlossen hatte, kehrte verzweifelt zurück. Er war von Natur aus nachtblind und sah in dieser dunklen Nacht und im dicht verwachsenen Auenwald rein gar nichts.
Nachdem er mehrfach gestolpert oder gegen vorstehende Felsen gestoßen war, rutschte er an einer moosbewachsenen Stelle aus und schlug lang auf den Boden hin, wo er mit dem Kopf gegen einen spitzen Fels prallte. Im Nu blutüberströmt, saß er da mit rasenden Kopfschmerzen und ließ sich von einem der Crewmitglieder aufhelfen. Es hatte keinen Sinn: Wenn er nichts sah, war die Gefahr eines lebensbedrohenden Unfalls zu groß. Zumal er an Bord konnte eventuell mehr helfen konnte, zum Beispiel bei der Organisation der Suche.
Xenia, die sich gleich zu Jonny gestellt hatte, sobald dieser wieder an Bord war, erkundigte sich besorgt nach Angelika, aber der Immobilienmakler konnte darüber nur wenig Auskunft geben.
»Wo ist Arpad?« fragte er Xenia. Doch diese zuckte ratlos mit den Schultern.
»Er hatte noch einiges zu erledigen und wollte dann zu mir in die Kabine kommen. Ist er von Bord gegangen, um Angelika zu suchen?« fragte Xenia, doch niemand konnte Auskunft geben.
In diesem Moment kam Herr Fischbaum, der Rentner aus Remscheid. Er hielt etwas in der rechten erhobenen Hand und rief:
»Das habe ich gefunden! Das stammt von diesem Ungeheuer««
Und im Handumdrehen stand er im Mittelpunkt des Interesses. Doch niemand hatte bislang auf dem Schiff eine Person mit einer solchen Maske herumlaufen sehen.
Doch der Eklat kam erst noch, als Jakob Fischbaum voller Stolz verkündete: »Und ich weiß, wer dieser Blutsauger ist!«
Im Nu war es mucksmäuschenstill geworden in der Lounge, selbst die Bordmitglieder, die mit dem Verteilen von Getränken beschäftigt waren und wenig oder gar kein Deutsch konnten, hielten den Atem an.
»Meine Frau hat ihn gesehen und zwar in genau dem Augenblick, als er seine Maske verloren hat. Und sie hat ihn erkannt!«
Der Rentner blickte sich beifallsheischend um, als habe er ein besonderes Verdienst daran, dass seine Frau etwas gesehen hatte. »Sie hat ihn erkannt!«, wiederholte er triumphierend.
»Wer ist es?« »Ist es ein Passagier oder ein Crewmitglied?« »Wie heißt das Ungeheuer?« So schwirrten die Fragen durcheinander.
»Es ist dieser Erste Steuermann!«, rief Fischbaum und sah sich triumphierend um. »Wie heißt er noch?«
»Arpad, mein Arpad?« rief Xenia in panischer Angst. »Das kann nicht sein! Arpad doch nicht!«
»Meine Frau hat ihn ganz sicher erkannt. Er hatte Ihre Freundin über die Schulter hängen und ist Richtung Gangway verschwunden.«
Jonny konnte Xenia gerade noch auffangen, ehe sie ohnmächtig zu Boden stürzte.
*
In der Nähe der »Tabula Trajana«, der Trajanstafel, die im Jahre 101 nach Christi Geburt zu Ehren des römischen Kaisers Trajan am nördlichen Ufer angebracht wurde, befindet sich auf der Südseite der Donau ein Eisentor, das eine natürliche Felsengrotte versperrt. Dieses Tor ist von enormen Ausmaßen und verschließt einen Stützpunkt der bulgarischen Binnenmarine. Gegenüber der in der Nähe errichteten kleinen Kirche, die Kilometer 967 schmückt, gibt es einen Zugang über eine Leiter, die mehrere Stockwerke in die Tiefe führt und über die diese Grotte erreichbar ist.
Normalerweise gehören die hier eingelagerten Flussfahrzeuge zur eisernen Reserve der bulgarischen Zivilverteidigung: Schnellboote, die mit jeweils einer Zwanzig-Millimeter-Kanone sowie mehreren Maschinengewehren ausgerüstet sind. Eins dieser Boote sticht allerdings aus der Menge der Fahrzeuge hervor: Die »Anti-Vlad«, was bedeutet »Gegen den Schlächter«, ist ein mit starker finanzieller Unterstützung der IAVA ausgerüstetes Einsatzboot, dessen Waffen geweihte Silbermunition verschießen und dessen Besatzungsmitglieder, alle in der Nähe des Standorts wohnhaft und nur im Alarmfall dienstverpflichtet, Reservisten sind, die normalen Berufen in der Umgebung nachgehen.
Der Alarm überraschte die Besatzungsmitglieder der »Anti-Vlad« im Schlaf, doch das regelmäßige Training für Einsatzbereitschaft und Kampfkraft zahlte sich aus: Innerhalb eine guten Stunde konnte der Wachhabende in der Grotte, der im 48-Stunden-Rhythmus Dienst tat, nach Sofia Kampfbereitschaft melden. Die IAVA wurde umgehend davon in Kenntnis gesetzt.
Parallel dazu war eine Hubschrauberstaffel in Bereitschaft versetzt worden; ein Erkundungshelikopter mit Nachtsichtgerät war sofort nach der Alarmierung in die Luft gestiegen und in der Nähe der »Danubia Queen« zu Boden gegangen. Frau Schmidt-Wellinghausen, von der IAVA in Genf mit der Koordinierung der Such- und Kampfeinsätze beauftragt, setzte sich umgehend mit dem Piloten in Verbindung, einem diensteifrigen Leutnant, der trotz der Dunkelheit unverzüglich mit der Suche nach Arpad und seiner Beute begann.
Was er allerdings an Erkenntnis sofort nach dem ersten Flug mitteilte, war das Nahen einer Schar von kampfbereiten Dörflern aus Dragovac, die sich fünf Kilometer vor der Anlegestelle 45 mit den beiden Fürstensöhnen in ihrem geländegängigen Fahrzeug getroffen hatten und nun im Schein von Fackeln den Weg suchten. Die Tatsache, dass Waffen zu erkennen waren, veranlasste den Piloten, den Rest der Hubschrauberstaffel anzufordern. Armbrüste mochten gemessen an heutiger Technologie veraltet sein, dennoch stellten die Bolzen, die daraus verschossen wurden, eine ernsthafte Bedrohung dar. Es gab sogar Hinweise, dass leichte Panzerungen, wie sie die Hubschrauber besaßen, von den Bolzen durchbohrt werden konnten.
*
Angelika war nur kurze Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Als sie zu sich kam, lag sie auf hartem Untergrund. Ihr Kopf tat weh und als sie sich an die Stirn fasste, spürte sie Feuchtigkeit: Blut. Das erkannte sie, als sie ihre Finger betrachtete, die mit der Flüssigkeit in Berührung gekommen waren. Schlagartig kam ihr die Erinnerung zurück, was geschehen war.
Der nächtliche Gang im Schiff und das schwarze Monster mit seiner Maske, das ihr einen Hieb an die Schläfe versetzt hatte. Es hatte sie offensichtlich hierher verschleppt. Und dann kam es ihr siedend heiß: Jonny, was war mit Jonny? Hatte das Monster ihm auch etwas angetan, war er etwa verletzt? Oder schlimmer noch?
Sie richtete sich auf und sah sich um. Ihr war leicht schwindelig,