“Die Sonne ist fort. Unvermerkt hat der Himmel sich bezogen. Es fängt schon an, dunkel zu werden.“
„Wahrhaftig, ja, alles liegt in Schatten“, antwortete Herrn Klöterjahns Gattin. „Unsere Ausflügler werden doch noch Schnee bekommen, wie es scheint. Gestern war es um diese Zeit noch voller Tag; nun dämmert es schon.“
„Ach“, sagte er, „nach allen diesen überhellen Wochen tut das Dunkel den Augen wohl. Ich bin dieser Sonne, die Schönes und Gemeines mit gleich aufdringlicher Deutlichkeit bestrahlt, geradezu dankbar, dass sie sich endlich ein wenig verhüllt.“
„Lieben Sie die Sonne nicht, Herr Spinell?“
„Da ich kein Maler bin… Man wird innerlicher ohne Sonne. – Es ist eine dicke, weißgraue Wolkenschicht. Vielleicht bedeutet es Tauwetter für morgen. Übrigens würde ich Ihnen nicht raten, dort hinten noch auf die Handarbeit zu blicken, gnädige Frau.“
„Ach, seien Sie unbesorgt, das tue ich ohnehin nicht. Aber was soll man beginnen?“
Er hatte sich auf den Drehsessel vorm Piano niedergelassen, indem er einen Arm auf den Deckel des Instrumentes stützte.
„Musik.“, sagte er. „Wer jetzt ein bisschen Musik zu hören bekäme! Manchmal singen die englischen Kinder kleine niggersongs[45], das ist alles.“
„Und gestern nachmittag hat Fräulein von Osterloh in aller Eile die,Klosterglocken’ gespielt“, bemerkte Herrn Klöterjahns Gattin.
„Aber Sie spielen ja, gnädige Frau“, sagte er bittend und stand auf. „Sie haben einmal täglich mit Ihrem Herrn Vater musiziert.“
„Ja, Herr Spinell, das war damals! Zur Zeit des Springbrunnens, wissen Sie.“
„Tun Sie es heute!“ bat er. „Lassen Sie dies eine mal ein paar Takte hören! Wenn Sie wüssten, wie ich dürste.“
„Unser Hausarzt sowohl wie Doktor Leander haben es mir ausdrücklich verboten, Herr Spinell.“
„Sie sind nicht da, weder der eine noch der andere! Wir sind frei… Sie sind frei, gnädige Frau! Ein paar armselige Akkorde.“
„Nein, Herr Spinell, daraus wird nichts. Wer weiß, was für Wunderdinge Sie von mir erwarten! Und ich habe alles verlernt, glauben Sie mir. Auswendig kann ich beinahe nichts.“
„Oh, dann spielen Sie dieses Beinahe-nichts! Und zum Überfluss sind hier Noten, hier liegen sie, oben auf dem Klavier. Nein, dies hier ist nichts. Aber hier ist Chopin[46].“
„Chopin?“
„Ja, die Nocturnes[47]. Und nun fehlt nur, dass ich die Kerzen anzünde…“
„Glauben Sie nicht, dass ich spiele, Herr Spinell! Ich darf nicht. Wenn es mir nun schadet?!“
Er verstummte. Er stand, mit seinen großen Füßen, seinem langen, schwarzen Rock und seinem grauhaarigen, verwischten, bartlosen Kopf, im Lichte der beiden Klavierkerzen und ließ die Hände hinunterhängen.
„Nun bitte ich nicht mehr“, sagte er endlich leise. „Wenn Sie fürchten, sich zu schaden, gnädige Frau, so lassen Sie die Schönheit tot und stumm, die unter Ihren Fingern laut werden möchte. Sie waren nicht immer so sehr verständig; wenigstes nicht, als es im Gegenteil galt, sich der Schönheit zu begeben. Sie waren nicht besorgt um Ihren Körper und zeigten einen unbedenklicheren und festeren Willen, als Sie den Springbrunnen verließen und die kleine goldene Krone ablegten… Hören Sie“, sagte er nach einer Pause und seine Stimme senkte sich noch mehr, „wenn Sie jetzt hier niedersitzen und spielen wie einst, als noch Ihr Vater neben Ihnen stand und seine Geige jene Töne singen ließ, die Sie weinen machten., dann kann es geschehen, dass man sie weider heimlich in Ihrem Haare blinken sieht, die kleine, goldene Krone.“
„Wirklich?“ fragte sie und lächelte. Zufällig versagte ihr die Stimme bei diesem Wort, so dass es zur Hälfte heiser und zur Hälfte tonlos herauskam. Sie hüstelte und sagte dann:
„Sind es wirklich die Nocturnes von Chopin, die Sie da haben?“
„Gewiss. Sie sind aufgeschlagen, und alles ist bereit.“
„Nun, so will ich denn in Gottes Namen eins davon spielen“, sagte sie. „Aber nur eins, hören Sie? Dann werden Sie ohnehin für immer genug haben.“
Sie spielte das Nocturne in Es-Dur[48], opus 9, Nummer 2. Wenn sie wirklich einiges verlernt hatte, so musste ihr Vortrag ehedem vollkommen künstlerisch gewesen sein. Das Piano war nur mittelmäßig, aber schon nach den ersten Griffen wusste sie es mit sicherem Geschmack zu behandeln. Sie zeigte einen nervösen Sinn für differenzierte Klangfarbe und eine Freude an rhythmischer Beweglichkeit, die bis zum Phantastischen ging. Ihr Anschlag war sowohl fest als weich. Unter ihren Händen sang die Melodie ihre letzte Süßigkeit aus, und mit einer zögernden Grazie schmiegten sich die Verzierungen um ihre Glieder.
Sie trug das Kleid vom Tage ihrer Ankunft: die dunkle, gewichtige Taille mit den plastischen Sammetarabesken, die Haut und Hände so unirdisch zart erscheinen ließ. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht beim Spiele, aber es schien, als ob die Umrisse ihrer Lippen noch klarer würden, die Schatten in den Winkeln ihrer Augen sich vertieften. Als sie geendigt hatte, legte sie die Hände in den Schoß und fuhr fort, auf die Noten zu blicken. Herr Spinell blieb ohne Laut und Bewegung sitzen.
Sie spielte noch ein Nocturne, spielte ein zweites und drittes. Dann erhob sie sich: aber nur, um auf dem oberen Klavierdeckel nach neuen Noten zu suchen.
Herr Spinell hatte den Einfall, die Bände in schwarzen Pappdeckeln zu untersuchen, die auf dem Drehsessel lagen. Plötzlich stieß er einen unverständlichen Laut aus, und seine großen, weißen Hände fingerten leidenschaftlich an einem dieser vernachlässigten Bücher.
„Nicht möglich!.. Es ist nicht wahr!..“ sagte er… „Und dennoch täusche ich mich nicht!. Wissen Sie, was es ist?. Was hier lag?. Was ich hier halte.?“
„Was ist es?“ fragte sie.
Da wies er ihr stumm das Titelblatt. Er war ganz bleich, ließ das Buch sinken und sah sie mit zitternden Lippen an.
„Wahrhaftig? Wie kommt das hierher? Also geben Sie“, sagte sie einfach und stellte die Noten aufs Pult, setzte sich und begann nach einem Augenblick der Stille mit der ersten Seite.
Er saß neben ihr, vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, mit gesenktem Kopfe. Sie spielte den Anfang mit einer ausschweifenden und quälenden Langsamkeit, mit beunruhigend gedehnten Pausen zwischen den einzelnen Figuren. Das Sehnsuchtsmotiv, eine einsame und irrende Stimme in der Nacht, ließ leise seine bange Frage vernehmen. Eine Stille und ein Warten. Und siehe, es antwortet: derselbe zage und einsame Klang, nur heller, nur zarter. Ein neues Schweigen. Da setzte mit jenem gedämpften und wundervollen Sforzato[49], das ist wie ein Sich-Aufraffen und seliges Aufbegehren der Leidenschaft, das Liebesmotiv ein, stieg aufwärts, rang sich entzückt empor bis zur süßen Verschlingung, sank, sich lösend, zurück, und mit ihrem tiefen Gesange von schwerer, schmerzlichen Wonne traten die Celli[50] hervor und führten die Weise fort…
Nicht ohne Erfolg versuchte die Spielende, auf dem armseligen Instrument die Wirkungen des Orchesters anzudeuten. Die Violinläufe der großen Steigerung erklangen mit leuchtender Präzision. Sie spielte mit preziöser Andacht, verharrte gläubig bei jedem Gebilde und hob demütig und demonstrativ das Einzelne hervor, wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt. Was geschah? Zwei Kräfte, zwei entrückte Wesen strebten in Leiden und Seligkeit nacheinander und umarmten sich in dem verzückten und wahnsinnigen Begehren nach dem Ewigen und Absoluten… Das Vorspiel flammte auf und neigte sich. Sie endigte da, wo der Vorhang sich teilt und fuhr dann fort, schweigend auf die Noten zu blicken.
Unterdessen