Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке. Томас Манн. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Томас Манн
Издательство: КАРО
Серия: Klassische Literatur (Каро)
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
isbn: 978-5-9925-1477-3
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knabenhaft, war es nur hier und da mit einezelnen Flaumhärchen besetzt. Und das sah ganz merkwürdig aus. Der Blick seiner rehbraunen, blanken Augen war von sanftem Ausdruck, die Nase gedrungen und ein wenig zu fleischig. Ferner besaß Herr Spinell eine gewölbte, poröse Oberlippe römischen Charakters, große, kariöse Zähne und Füße von seltenem Umfange. Einer der Herren mit den unbeherrschten Beinen, der ein Zyniker und Witzbold war, hatte ihn hinter seinem Rücken „der verweste Säugling“ getauft; aber das war hämisch und wenig zutreffend. – Er ging gut und modisch gekleidet, in langem schwarzem Rock und farbig punktierter Weste.

      Er war ungesellig und hielt mit keiner Seele Gemeinschaft. Nur zuweilen konnte eine leutselige, liebevolle und überquällende Stimmung ihn befallen, und das geschah jedesmal, wenn Herr Spinell in ästhetischen Zustand verfiel, wenn der Anblick von irgend etwas Schönem, der Zusammenklang zweier Farben, eine Vase von edler Form, das vom Sonnenuntergang bestrahlte Gebirge ihn zu lauter Bewunderung hinriss. „Wie schön!“ sagte er dann, indem er den Kopf auf die Seite legte, die Schultern emporzog, die Hände spreizte und Nase und Lippen krauste. „Gott, sehen Sie, wie schön!“ Und er war imstande, blindlings die distinguiertesten Herrschaften, ob Mann oder Weib, zu umhalsen in der Bewegung solcher Augenblicke…

      Beständig lag auf seinem Tische, für jeden sichtbar, der sein Zimmer betrat, das Buch, das er geschrieben hatte. Es war ein Roman von mäßigem Umfang, mit einer vollkommen verwirrenden Umschlagzeichnung versehen und gedruckt auf eine Art von Kaffeesiebpapier mit Buchstaben, von denen ein jeder aussah wie eine gotische Kathedrale. Fräulein von Osterloh hatte es in einer müßigen Viertelstunge gelesen und fand es „raffiniert“, was ihre Form war, das Urteil „unmenschlich langweilig“ zu umschreiben. Es spielte in mondänen Salons, in üppigen Frauengemächern, die voller erlesener Gegenstände waren, voll von Gobelins[25], uralten Meubles[26], köstlichem Porzellan, unbezahlbaren Stoffen und künstlerischen Kleinodien aller Art. Auf die Schilderung dieser Dinge war der liebevollste Wert gelegt, und beständig sah man dabei Herrn Spinell, wie er die Nase kraus zog und sagte: “Wie schön! Gott, sehen Sie, wie schön!“ Übrigens musste es wundernehmen, dass er noch nicht mehr Bücher verfasst hatte als dieses eine, denn augenscheinlich schrieb er mit Leidenschaft. Er verbrachte den größeren Teil des Tages schreibend auf seinem Zimmer und ließ außerordentlich viele Briefe zur Post befördern, fast täglich einen oder zwei – wobei es nur als befremdend und belustigend auffiel, dass er seinerseits höchst selten welche empfing…

      Herr Spinell saß der Gattin Herrn Klöterjahns bei Tische gegenüber. Zur ersten Mahlzeit, an der die Herrschaften teilnahmen, erschien er ein wenig zu spät in dem großen Speisesaal im Erdgeschoss des Seitenflügels, sprach mit weicher Stimme einen an alle gerichteten Gruß und begab sich an seinen Platz, worauf Doktor Leander ihn ohne viel Zeremonie den neu Angekommenen vorstellte. Er verbeugte sich und begann dann, offenbar ein wenig verlegen, zu essen, indem er Messer und Gabel mit seinen großen, weißen und schön geformten Händen, die aus sehr engen Ärmeln hervorsahen, in ziemlich affektierter Weise bewegte. Später wurde er frei und betrachtete in Gelassenheit abwechselnd Herrn Klöterjahn und seine Gattin. Auch richtete Herr Klöterjahn im Verlaufe der Mahlzeit einige Fragen und Bemerkungen betreffend die Anlage und das Klima von „Einfried“ an ihn, in die seine Frau in ihrer lieblichen Art zwei oder drei Worte einfließen ließ und die Herr Spinell höflich beantwortete. Seine Stimme war mild und recht angenehm; aber er hatte eine etwas behinderte und schlürfende Art zu sprechen, als seien seine Zähne der Zunge im Wege.

      Nach Tische, als man ins Konversationszimmer hinübegegangen war und Doktor Leander den neuen Gästen im besonderen eine gesegnete Mahlzeit wünschte[27], erkundigte sich Herrn Klöterjahns Gattin nach ihrem Gegenüber.

      „Wie heißt der Herr?“ fragte sie… „Spinelli? Ich habe den Namen nicht verstanden.“

      „Spinell. nicht Spinelli, gnädige Frau. Nein, er ist kein Italiener, sondern bloß aus Lemberg gebürtig, soviel ich weiß.“

      „Was sagten Sie? Er ist Schriftsteller? Oder was?“ fragte Herr Klöterjahn; er hielt die Hände in den Taschen seiner bequemen englischen Hose, neigte sein Ohr dem Doktor zu und öffnete, wie manche Leute pflegen, den Mund beim Horchen.

      „Ja, ich weiß nicht, er schreibt…“, antwortete Doktor Leander. „Er hat, glaube ich, ein Buch veröffentlicht, eine Art Roman, ich weiß wirklich nicht.“

      Dieses wiederholte „Ich weiß nicht“ deutete an, dass Doktor Leander keine großen Stücke auf den Schriftsteller hielt[28] und jede Verantwortung für ihn ablehnte.

      „Aber das ist ja sehr interessant!“ sagte Herrn Klöterjahns Gattin. Sie hatte noch nie einen Schriftsteller von Angesicht zu Angesicht gesehen.

      „O ja“, erwiderte Doktor Leander entgegenkommend. „Er soll sich eines gewissen Rufes erfreuen.“ Dann wurde nicht mehr von dem Schriftsteller gesprochen.

      Aber ein wenig später, als die neuen Gäste sich zurückgezogen hatten und Doktor Leander ebenfalls das Konversationszimmer verlassen wollte, hielt Herr Spinell ihn zurück und erkundigte sich auch seinerseits.

      „Wie ist der Name des Paares?“ fragte er. „Ich habe natürlich nichts verstanden.“

      „Klöterjahn“, antwortete Doktor Leander und ging schon wieder.

      „Wie heißt der Mann?“ fragte Herr Spinell.

      „Klöterjahn heißen sie!“ sagte Doktor Leander und ging seiner Wege. – Er hielt gar keine großen Stücke auf den Schriftsteller.

      Waren wir schon soweit, dass Herr Klöterjahn in die Heimat zurückgekehrt war? Ja, er weilte wieder am Ostseestrande, bei seinen Geschäften und seinem Kinde, diesem rücksichtslosen und lebensvollen kleinen Geschöpf, das seiner Mutter sehr viele Leiden und einen kleinen Defekt an der Luftröhre gekostet hatte. Sie selbst aber, die junge Frau, blieb in „Einfried“ zurück, und die Magistratsrätin Spatz schloss sich ihr als ältere Freundin an. Das aber hinderte nicht, dass Herrn Klöterjahns Gattin auch mit den übrigen Kurgästen gute Kameradschaft pflegte, zum Beispiel mit Herrn Spinell, der ihr zum Erstaunen aller (denn er hatte bislang mit keiner Seele Gemeinschaft gehalten) von Anbeginn eine außerordentliche Ergebenheit und Dienstfertigkeit entgegenbrachte und mit dem sie in den Freistunden, die eine strenge Tagesordnung ihr ließ, nicht ungern plauderte.

      Er näherte sich ihr mit einer ungeheuren Behutsamkeit und Ehrerbietung und sprach zu ihr nicht anders als mit sorgfältig gedämpfter Stimme, so dass die Rätin Spatz, die an den Ohren krankte, meistens überhaupt nichts von dem verstand, was er sagte. Er trat auf den Spitzen seiner großen Füße zu dem Sessel, in dem Herrn Klöterjahns Gattin zart und lächelnd lehnte, blieb in einer Entfernung von zwei Schritten stehen, hielt das eine Bein zurückgestellt und den Oberkörper vorgebeugt und sprach in seiner etwa behinderten und schlürfenden Art leise, eindringlich und jeden Augenblick bereit, eilends zurückzutreten und zu verschwinden, sobald ein Zeichen von Ermüdung und Überdruss sich auf ihrem Gesicht bemerkbar machen würde. Aber er verdross sie nicht; sie forderte ihn auf, sich zu ihr und der Rätin zu setzen, richtete irgendeine Frage an ihn und hörte ihm dann lächelnd und neugierig zu, denn manchmal ließ er sich so amüsant und seltsam vernehmen, wie es ihr noch niemals begegnet war.

      „Warum sind Sie eigentlich in,Einfried’?“ fragte sie. „Welche Kur brauchen Sie, Herr Spinell?“

      „Kur?… Ich werde ein bisschen elektrisiert. Nein, das ist nicht der Rede wert. Ich werde Ihnen sagen, gnädige Frau, warum ich hier bin. – Des Stiles wegen.“

      „Ah!“ sagte Herrn Klöterjahns Gattin, stützte das Kinn in die Hand und wandte sich ihm mit einem übertriebenen Eifer zu, wie man ihn Kindern vorspielt, wenn sie etwas erzählen wollen.

      „Ja, gnädige Frau,Einfried’ ist ganz empire[29], es ist ehedem ein Schloss, eine Sommerresidenz gewesen, wie man mir sagt. Dieser Seitenflügel ist ja ein Anbau aus späterer Zeit, aber das Hauptgebäude ist alt und echt. Es gibt nun Zeiten, in denen ich das empire einfach nicht entbehren kann, in


<p>25</p>

Gobelins – гобелены, настенные тканые картины

<p>26</p>

Meubles = Möbel

<p>27</p>

jemandem eine gesegnete Mahlzeit wünschen – желать кому-либо приятного аппетита

<p>28</p>

große Stücke auf jemanden halten – быть высокого мнения о ком-то; возлагать на кого-то большие надежды

<p>29</p>

empire – см. пояснения к главе 2 (Empirestil)