Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке. Томас Манн. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Томас Манн
Издательство: КАРО
Серия: Klassische Literatur (Каро)
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
isbn: 978-5-9925-1477-3
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es Ihnen etwas genützt hat! Wenn Sie sich etwa der Hoffnung hingeben, meiner Frau Grillen in den Kopf gesetzt zu haben, so befinden Sie sich auf dem Holzwege[60], mein wertgeschätzter Herr, dazu ist sie ein zu vernünftiger Mensch! Oder wenn Sie am Ende gar glauben, dass Sie mich irgendwie anders als sonst empfangen hat, mich und das Kind, als wir kamen, so setzten Sie Ihrer Abgeschmacktheit die Krone auf! Wenn sie dem Kleinen keinen Kuss gegeben hat, so geschah es aus Vorsicht, weil neuerdings die Hypothese aufgetaucht ist, dass es nicht die Luftröhre, sondern die Lunge ist, und man in diesem Falle nicht wissen kann… obgleich es übrigens noch sehr zu beweisen ist, das mit der Lunge, und Sie mit Ihrem,sie stirbt, mein Herr!’ Sie sind ein Esel!“

      Hier suchte Herr Klöterjahn seine Atmung ein wenig zu regeln. Er war nun sehr in Zorn geraten, stach beständig mit dem rechten Zeigefinger in die Luft und richtete das Manuskript in seiner Linken aufs übelste zu. Sein Gesicht, zwischen dem blonden englischen Backenbart, war furchtbar rot, und seine umwölkte Stirn war von geschwollenen Adern zerrissen wie von Zornesblitzen.

      „Sie hassen mich“, fuhr er fort, „und Sie würden mich verachten, wenn ich nicht der stärkere wäre… Ja, das bin ich, zum Teufel, ich habe das Herz auf dem rechten Fleck[61], während Sie das Ihre wohl meistens in den Hosen haben, und ich würde Sie in die Pfanne hauen[62] mitsamt Ihrem,Geist und Wort’, Sie hinterlistiger Idiot, wenn das nicht verboten wäre. Aber damit ist nicht gesagt, mein Lieber, dass ich mir Ihre Invektiven[63] so ohne weiteres gefallen lasse, und wenn ich das mit dem,ordinären Namen’ zu Haus meinem Anwalt zeige, so wollen wir sehen, ob Sie nicht Ihr blaues Wunder erleben[64]. Mein Name ist gut, mein Herr, und zwar durch mein Verdienst. Ob Ihnen jemand auf den Ihren auch nur einen Silbergroschen[65] borgt, diese Frage mögen Sie mit sich selbst erörtern, Sie hergelaufener Bummler! Gegen Sie muss man gesetzlich vorgehen! Sie sind gemeingefährlich! Sie machen die Leute verrückt!.. Obgleich Sie sich nicht einzubilden brauchen, dass es Ihnen diesmal gelungen ist, Sie heimtückischer Patron! Von Individuen, wie Sie eins sind, lasse ich mich denn doch nicht aus dem Felde schlagen[66]. Ich habe das Herz auf dem rechten Fleck[67]…“

      Herr Klöterjahn war nun wirklich äußerst erregt. Er schrie und sagte wiederholt, dass er das Herz auf dem rechten Fleck habe.

      „,Sie sangen.’ Punkt. Sie sangen gar nicht! Sie strickten. Außerdem sprachen sie, soviel ich verstanden habe, von einem Rezept für Kartoffelpuffer, und wenn ich das mit dem,Verfall’ und der,Auflösung’ meinem Schwiegervater sage, so belangt er sie gleichfalls von Rechts wegen, da können Sie sicher sein!…Sahen Sie das Bild? Sahen Sie es?’ Natürlich sah ich es, aber ich begreife nicht, warum ich deshalb den Atem anhalten und davonlaufen sollte. Ich schiele den Weibern nicht am Gesicht vorbei, ich sehe sie mir an, und wenn sie mir gefallen, und wenn sie mich wollen, so nehme ich sie mir. Ich habe das Herz auf dem rechten Fl…“

      Es pochte. – Es pochte gleich neun- oder zehnmal ganz rasch hintereinander an die Stubentür, ein kleiner, heftiger, ängstlicher Wirbel, der Herrn Klöterjahn verstummen machte, und eine Stimme, die gar keinen Halt hatte, sondern von Bedrängnis fortwährend aus den Fugen ging[68], sagte in größter Hast:

      „Herr Klöterjahn, Herr Klöterjahn, ach, ist Herr Klöterjahn da?“

      „Draußen bleiben“, sagte Herr Klöterjahn unwirsch… „Was ist? Ich habe hier zu reden.“

      „Herr Klöterjahn“, sagte die schwankende und sich brechende Stimme „Sie müssen kommen… auch die Ärzte sind da… oh, es ist so entsetzlich traurig…“

      Da war er mit einem Schritt an der Tür und riss sie auf. Die Rätin Spatz stand draußen. Sie hielt ihr Schnupftuch vor den Mund, und große, längliche Tränen rollten paarweise in dieses Tuch hinein.

      „Herr Klöterjahn“, brachte sie hervor… „es ist so entsetzlich traurig… Sie hat so viel Blut aufgebracht, so fürchterlich viel… Sie saß ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott, so übermäßig viel…“

      „Ist sie tot?“ schrie Herr Klöterjahn… dabei packte er die Rätin am Oberarm und zog sie auf der Schwelle hin und her. „Nein, nicht ganz, wie? Noch nicht ganz, sie kann mich noch sehen… Hat sie wieder ein bisschen Blut aufgebracht? Aus der Lunge, wie? Ich gebe zu, dass es vielleicht aus der Lunge kommt… Gabriele!“ sagte er plötzlich, indem die Augen ihm übergingen, und man sah, wie ein warmes, gutes menschliches und redliches Gefühl in ihm hervorbrach. „Ja, ich komme“ sagte er, und mit langen Schritten schleppte er die Rätin aus dem Zimmer hinaus und über den Korridor davon. Von einem entlegenen Teile des Wandelganges her vernahm man noch immer sein rasch sich entfernendes „Nicht ganz, wie?… Aus der Lunge, was?…“

12

      Herr Spinell stand auf dem Fleck, wo er während Herrn Klöterjahns so jäh unterbrochener Visite gestanden hatte, und blickte auf die offene Tür. Endlich tat er ein paar Schritte vorwärts und horchte ins Weite. Aber alles war still, und so schloss er die Tür und kehrte ins Zimmer zurück.

      Eine Weile betrachtete er sich im Spiegel. Hierauf ging er zum Schreibtisch, holte ein kleines Flakon und ein Gläschen aus einem Fache hervor und nahm einen Kognak zu sich, was kein Mensch ihm verdenken konnte. Dann streckte er sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen.

      Die obere Klappe des Fensters stand offen. Draußen im Garten von „Einfried“ zwitscherten die Vögel, und in diesen kleinen, zarten und kecken Lauten lag fein und durchdringend der ganze Frühling ausgedrückt. Einmal sagte Herr Spinell leise vor sich hin: „Unausbleiblicher Beruf…“ Dann bewegte er den Kopf hin und her und zog die Luft durch die Zähne ein wie bei einem heftigen Nervenschmerz.

      Es war unmöglich, zur Ruhe und Sammlung zu gelangen. Man ist nicht geschaffen für so plumpe Erlebnisse wie dieses da! – Durch einen seelischen Vorgang, dessen Analyse zu weit führen würde, gelangte Herr Spinell zu dem Entschlusse, sich zu erheben und sich ein wenig Bewegung zu machen, sich ein wenig im Freien zu ergehen. So nahm er den Hut und verließ das Zimmer.

      Als er aus dem Hause trat und die milde, würzige Luft ihn umfing, wandte er das Haupt und ließ seine Augen langsam an dem Gebäude empor bis zu einem der Fenster gleiten, einem verhängten Fenster, an dem sein Blick eine Weile ernst, fest und dunkel haftete. Dann legte er die Hände auf den Rücken und schritt über die Kieswege dahin. Er schritt in tiefen Sinnen.

      Noch waren die Beete mit Matten bedeckt, und Bäume und Sträucher waren noch nackt; aber der Schnee war fort, und die Wege zeigten nur hier und da noch feuchte Spuren. Der weite Garten mit seinen Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons lag in prächtig farbiger Nachmittagsbeleuchtung, mit kräftigen Schatten und sattem, goldigem Licht, und das dunkle Geäst der Bäume stand scharf und zart gegliedert gegen den hellen Himmel.

      Es war um die Stunde, da die Sonne Gestalt annimmt, da die formlose Lichtmasse zur sichtbar sinkenden Scheibe wird, deren sattere, mildere Glut das Auge duldet. Herr Spinell sah die Sonne nicht; sein Weg führte ihn so, dass sie ihm verdeckt und verborgen war. Er ging gesenkten Hauptes und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, ein kurzes Gebild, eine bang und klagend aufwärts steigende Figur, das Sehnsuchtsmotiv… Plötzlich aber, mit einem Ruck, einem kurzen, krampfhaften Aufatmen, blieb er gefesselt stehen, und unter heftig zusammengezogenen Brauen starrten seine erweiterten Augen mit dem Ausdruck entsetzter Abwehr geradeaus…

      Der Weg wandte sich; er führte der sinkenden Sonne entgegen. Durchzogen von zwei schmalen, erleuchteten Wolkenstreifen mit vergoldeten Rändern stand sie groß und schräge am Himmel, setzte die Wipfel der Bäume in Glut und goss ihren gelbrötlichen Glanz über den Garten hin. Und inmitten dieser goldigen Verklärung, die gewaltige Gloriole der Sonnenscheibe zu Häupten, stand hochaufgerichtet im Wege eine üppige, ganz in Rot, Gold und Schottisch gekleidete Person, die ihre Rechte in die schwellende Hüfte stemmte und mit der Linken ein grazil geformtes Wägelchen


<p>60</p>

Sie befinden sich auf dem Holzwege – Вы на ложном пути

<p>61</p>

ich habe das Herz auf dem rechten Fleck – У меня сердце на нужном месте; Я хороший человек

<p>62</p>

in die Pfanne jemanden hauen – разнести кого-то в пух и прах; разбить наголову, стереть в порошок

<p>63</p>

Invektiven – оскорбления

<p>64</p>

das blaue Wunder erleben – хлебнуть горя, не обобраться хлопот

<p>65</p>

Silbergroschen, m – серебряный грош (монета в десять пфеннигов), то есть очень мелкая монета

<p>66</p>

aus dem Felde jemanden schlagen – одержать над кем-то верх

<p>67</p>

das Herz auf dem rechten Fleck haben – см. выше

<p>68</p>

aus den Fugen gehen – расшататься, расклеиться, прийти в беспорядок