Sand und Asche. Peter Gerdes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Gerdes
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839264669
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Er wird durch Essensentzug für vermeintliche Unzulänglichkeiten bestraft. Und wenn das mal nicht klappt, also diese Art der Bestrafung, dann wird eben zu anderen Mitteln gegriffen. Zum Beispiel zum Messer.«

      »Wie, wenn das nicht klappt?« Lüppo Buss hatte zwar eine Vermutung, wollte aber sichergehen. »Warum sollte das Aushungern denn plötzlich nicht mehr klappen?«

      »Weil zum Beispiel eine Instanz vorhanden ist, die dafür sorgt, dass das lebensnotwendige Minimum an Nahrung aufgenommen wird«, antwortete Fredermann. »Dann staut sich der Selbsthass an wie ein plötzlich zugeschütteter Fluss, und der Druck muss sich anderweitig entladen. So etwas passiert durchaus nicht selten …« Er schaute Lüppo Buss in die Augen. »Da sieht man mal wieder, wie wichtig gute Fragen sind. Ihre zum Beispiel führt uns mit einiger Sicherheit zu dem Ort, wo sich Angela Adelmund zuletzt aufgehalten hat.«

      »Das wäre doch schon mal etwas«, sagte Lüppo Buss mit der gebotenen Bescheidenheit. »Weil sie doch ansonsten keinerlei Hinweise bei sich hat. Und, was glauben Sie, wo hat sie gewohnt?«

      »Im Panoptikum der Arschlosen«, sagte Fredermann.

      6.

      »Die Presse wollen Sie belügen?« Kriminaldirektor Manningas dunkle Augen fixierten Stahnke unter hochgewölbten Brauen hervor.

      »Warum nicht? Die belügen uns schließlich auch dauernd.« Der Hauptkommissar zuckte die Achseln und erwiderte den Blick ohne ein Zwinkern. Er lächelte nicht einmal. Echt cool, Alter, dachte er selbstzufrieden. Und dann grinste er doch.

      Manninga lehnte sich zurück, so dass sein Chefsessel in allen Verbänden krachte. Der Leiter der Polizeiinspektion Leer/Emden war ein erfahrener Mann hart an der Pensionsgrenze, breit und massig gebaut, mit großväterlichem Gebaren. Rein äußerlich war er Stahnke nicht unähnlich. Bloß etwas älter, grauer und dicker, überlegte der Hauptkommissar, dessen eigene weißblonde Stoppelfrisur eine natürliche Tarnung für altersgraue Haare bot.

      Nun, Manningas Altersvorsprung war Fakt, daran würde sich auch nichts mehr ändern. Figürlich aber, das musste Stahnke sich eingestehen, hatte in den letzten Monaten eine unwillkommene Angleichung stattgefunden. Auch er neigte zur körperlichen Fülle, die zwar von seinen breiten Schultern halbwegs kaschiert, von der Waage aber gnadenlos ausposaunt wurde. Vergangenes Jahr hatte Stahnke es geschafft, durch viel Bewegung und wenig Wein und Bier ein bisschen abzuspecken; auch der mit seinem Hausumbau verbundene Stress hatte das Seine dazu beigetragen. Über den Winter aber war er wieder bequemer geworden. Das Fahrrad hatte Staub angesetzt – etwas, wozu die Flaschen in seinem Weinvorrat gar nicht erst gekommen waren. Das Resultat trug er jetzt oberhalb des Gürtels vor sich her.

      »Wo Sie recht haben, haben Sie recht«, antwortete Manninga augenzwinkernd. »Aber wir reden hier nicht von der Blöd-Zeitung, sondern von der seriösen Tagespresse. Und natürlich von der Öffentlichkeit. Was glauben Sie, was wir da zu hören bekommen, wenn die Sache rauskommt! Und rauskommen wird sie früher oder später, das ist Ihnen ja hoffentlich klar.«

      Stahnke schob die Unterlippe vor. »Irgendwann sicher, aber nicht so bald, wenn wir es geschickt anfangen«, sagte er. »Und dann wird die Reaktion davon abhängen, wie erfolgreich wir waren.«

      »Tja.« Manninga nickte. »Das ist es eben. Können Sie mir für den Erfolg Ihrer Aktion garantieren?«

      »Garantien gibt es keine in unserem Geschäft«, sagte Stahnke.

      Schweigend schauten sie sich an.

      Es klopfte. Ehe Manninga antworten konnte, wurde die Tür geöffnet.

      Stahnke kannte Kay-Uwe Venema natürlich von Pressefotos. In natura wirkte er kleiner und schmächtiger. Graues Sakko, legeres weißes Hemd mit offenem Kragen, graue Hose; der Reeder-Tycoon präsentierte sich in unaufdringlicher Allzweck-Eleganz. Seinen schwarzen Schuhen sah man erst auf den zweiten Blick an, wie teuer sie waren. Schweineteuer. Der Hauptkommissar kannte die Marke. Er hatte sich nicht einmal getraut, Schuhe dieses Labels anzuprobieren.

      »Herr Venema.« Manninga hatte sich aus seinem Sessel gestemmt und trat mit ausgestreckter Hand hinter seinem Schreibtisch hervor. Auch Stahnke erhob sich zur Begrüßung. Venemas Händedruck war fest, sein Blick direkt. Die schmale, beinahe zart zu nennende Nase erinnerte stark an die seiner Tochter. Ein femininer Zug, der jedoch durch ein energisches Kinn mehr als ausgeglichen wurde. Auch gegenüber den beiden körperlich größeren Amtsträgern zeigte Venema keine Spur von Unsicherheit.

      Sie nahmen in Manningas Besucherecke Platz.

      »Kaffee? Oder lieber …«

      Venema machte eine knappe, abwehrende Handbewegung. »Was gibt es Neues?«, fragte er.

      »Nichts.« Auch Manninga kam gut ohne langes Herumgerede aus. »Das gefundene Projektil wurde untersucht, es passt zu keiner Waffe, die bei uns registriert ist. Nach Fingerabdrücken wurde zwar gesucht, aber das ist bei einem öffentlichen Gebäude wie diesem praktisch aussichtslos. Die Angaben zur Gestalt des flüchtigen mutmaßlichen Schützen sind zu allgemein für ein Phantombild. Im Eingangs- und Außenbereich der BBS-Halle ist die betreffende Person niemandem aufgefallen. Insgesamt wurden an die einhundert Personen befragt. Entweder hat sich der Täter enorm gut in der Gewalt gehabt und ist wie ein normaler Passant davonspaziert, oder er hat die Halle über den Notausgang verlassen und sich dann über das Schulgelände und die angrenzenden Wiesen entfernt.«

      Venema nahm Manningas Bericht mit einem leichten Nicken entgegen. Typisch für jemanden in seiner Position, sich dazu nicht an die ermittelnden Kriminalbeamten, sondern an deren Chef zu wenden, überlegte Stahnke. Ob ihm überhaupt bewusst war, dass Stahnke, der ja mehr zufällig mit am Tisch saß, seit seiner Rückkehr de facto der Leiter dieser Ermittlungen war?

      »Dann haben Sie also überhaupt nichts in der Hand«, stellte Venema fest. Kein Vorwurf klang aus seinen Worten, aber Stahnke stellte sich vor, er sei beruflich von diesem Mann abhängig, und erschauderte.

      »Immerhin haben wir das Projektil«, widersprach Manninga. »Außerdem gibt es, äh … Erkenntnisse zur mutmaßlichen Tatwaffe.« Ein Nicken in Stahnkes Richtung sollte wohl bedeuten, dass damit seine Vermutungen in Bezug auf einen schallgedämpften Revolver gemeint waren.

      »Und das nützt Ihnen … was?« Venemas Stimme blieb unverbindlich, sein Blick aber gewann mehr und mehr die Schärfe eines Seziermessers. Der Alpha-Rüde kommt zum Vorschein, dachte Stahnke. Ohne zu knurren, denn er ist sich seiner Rolle sicher. So sicher, dass er sie nicht eigens zu betonen braucht. Ein höflicher Leitwolf, dem jeder die Fangzähne glaubt, auch ohne sie zu sehen.

      »Vorläufig nichts«, schaltete sich Stahnke ein. »Sehr viel aber in dem Moment, wenn uns im Zuge der Ermittlungen die Tatwaffe zum Täter führt. Oder aber wenn wir über einen Tatverdächtigen auf die richtige Waffe stoßen. Dann wird das Projektil zum entscheidenden Beweismittel.«

      Der sezierende Blick bohrte sich in Stahnkes Augen. Seine sind auch wasserblau, nur einen Tick dunkler als meine eigenen, stellte der Hauptkommissar fest, während er den Blick lächelnd erwiderte.

      »Und was, glauben Sie, könnte Sie in dieser Richtung voranbringen?«, fragte Venema. Auch mit größtem Bemühen war seinem Tonfall keine Spur Ironie zu entnehmen.

      »Das Motiv«, antwortete Stahnke.

      »Welches Motiv?«

      »Das«, erwiderte der Hauptkommissar, »ist genau das Problem. Weder wissen wir, wer ein Motiv gehabt haben könnte, Ihre Tochter umzubringen, noch, welches Motiv das sein könnte. Aber vielleicht können Sie uns in diesem Punkt ja voranbringen.«

      Das Blicke-Duell hielt an. Weder bei Stahnke noch bei Venema zuckte auch nur eine Wimper.

      »Meine Tochter ist eine junge Frau von ungewöhnlich ausgeprägter sozialer Kompetenz«, sagte der Reeder dann. »Ihr Gerechtigkeitssinn bestimmt ihr ganzes Verhalten, das stets auf Ausgleich gerichtet ist. Ob man sich damit Feinde machen kann, weiß ich nicht. Bekannt ist mir jedenfalls kein einziger. Dafür Freunde. Stephanies Freundeskreis ist nicht sehr groß, aber stabil. Ich kenne alle, die dazugehören. Alle mögen, um nicht zu sagen: