Sand und Asche. Peter Gerdes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Gerdes
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839264669
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ja auch für eine abenteuerliche Seefahrt.

      Ausnahmslos alle Urlauber aber zog die Schlammspritzerei doch nicht in ihren Bann, stellte Stephanie fest. Mancher der Umstehenden hatte tatsächlich auch Augen für sie. Männer vor allem, junge wie ältere, aber auch zwei, drei Frauen. Sie kannte das, dachte sich gewöhnlich nichts dabei. Heute aber war ihr das extrem unangenehm.

      Was, wenn sie nun doch jemand erkannte?

      Sie hatte alles dafür getan, dass das nicht passierte. Ihr langes, hellblondes Haar war dunkel gefärbt und im Nacken zu einem formlosen Knoten gebunden, ihre blauen, leicht schräg stehenden Augen und die hohen Wangenknochen waren hinter einer großformatigen Sonnenbrille versteckt, ihren Körper hatte sie in einen unförmigen, schlammbraunen Parka gehüllt, die langen Beine steckten in dunklen Jeans. Dazu trug sie schmuddelige Chucks, Turnschuhe aus Segeltuch, die sie schon vor zwei Jahren hatte wegwerfen wollen. Nur gut, dass ihre Füße seither nicht mehr gewachsen waren.

      Ihren Rucksack hatte sie sich nur über die rechte Schulter gehängt, denn ihre linke Seite war noch sehr empfindlich. Sie spürte die Verbände unter der weiten Kleidung zwicken. Bis auf diesen erträglichen Schmerz fühlte sie sich vollkommen fit, obwohl der Anschlag erst sechsunddreißig Stunden her war. Daddys Ärzte hatten grünes Licht für die kurze Reise gegeben. Außerdem warteten auf Langeoog ja bereits weitere Ärzte auf sie.

      Eine schriftliche Anmeldebestätigung für die Klinik trug sie bei sich. Auf den Namen Steffi Ventjer. »Gleiche Initialen. Falls einige deiner Kleidungsstücke noch gekennzeichnet sind«, hatte Daddy schmunzelnd erklärt. Gott, machte ihm dieses Versteckspiel etwa auch noch Spaß? Sie hatte nur gelächelt und nichts darauf geantwortet. Auch nicht, dass sie ihr letztes mit Wäschestift markiertes Kleidungsstück schon vor fünf Jahren in den Lumpensack gesteckt hatte.

      Endlich lag die Fähre fest vertäut. Die Fahrgäste begannen sich über den brückenartigen Zugang an Bord zu schieben, während Elektrokarren damit anfingen, ganze Züge von Gepäckwagen über eine Rampe an Land und dafür andere Wagenketten aufs Schiff zu ziehen. In anderen Sielorten ging das noch per Kran vonstatten; dieses Verfahren hier fand Stephanie weit professioneller, auf jeden Fall schneller. In gewisser Weise waren die Fähren und ihre Kaianlagen in den jeweiligen Sielhäfen Spiegelbilder der verschiedenen Inseln, die von diesen Schiffen angefahren wurden. Im Gegensatz zu Borkum und Norderney, wo alles nach Massenabfertigung aussah, war Langeoog zwar autofrei, aber in der Hochsaison auch wiederum nicht so verschlafen wie etwa Baltrum, auch nicht so versnobt wie Juist oder so abgehoben wie Spiekeroog. »Fahrräder unerwünscht« – solch ein Schild würde man auf Langeoog wohl nicht finden.

      Im Gedränge und Gerempel auf der Gangway begann ihr der Rucksack über den Rücken zu pendeln. Stephanie war froh, dass sie ihren Rollkoffer nicht auch hinter sich her ziehen musste, denn ihre Verletzungen schmerzten doch noch bei jedem Stoß und jeder kleinen Anstrengung. Ihr Koffer lag wohlverstaut in Containerwagen Nummer 42. Die Zahl hatte sie sich eingeprägt, um nach ihrer Ankunft auf der Insel nicht lange suchen zu müssen. Zwar hatte sie außerdem noch einen nummerierten Gepäckschein erhalten, dessen Gegenstück auf dem Koffer klebte, aber die Kofferausgabe ging erfahrungsgemäß viel schneller, wenn man sich gleich beim richtigen Wagen anstellte statt am Schalter.

      Die Salons unter Deck füllten sich schnell; vielen Fahrgästen war es auf dem Sonnendeck offenbar zu windig. Stephanie ließ sich davon nicht abschrecken. Sie fand eine sonnenbeschienene Bank auf der Leeseite, lehnte sich mit der rechten Schulter an die eiserne Reling, hob das Gesicht dem wärmenden Licht entgegen und schloss die Augen.

      Sonnenstrahlen und die sanften Überbleibsel abgelenkter Windstöße streichelten ihre Haut wie mit warmen, weichen Fingern. So, wie Mama es früher oft getan hatte. Und Lennert heute.

      Lennert. Ihr großes, ihr einziges echtes Geheimnis vor Daddy. Ein Wunder, dass ihr Vater in den letzten neun Wochen nichts von ihm mitbekommen hatte. Ein Wunder auch, das Lennert vorgestern Abend niemandem aufgefallen war. Denn er musste in der Halle gewesen sein. Natürlich inkognito. Ob er versucht hatte, zu ihr zu gelangen, nachdem der Schuss gefallen war? Aber bestimmt hatten das viele gewollt. Bestimmt hatte die teure Security, von Daddy angeheuert, alle aufgehalten. Alle, auch Lennert.

      Super. Den Täter hatten diese hirnlosen Muskelprotze natürlich nicht aufhalten können.

      Die Zeitung, die sie zusammengefaltet in ihrer Innentasche trug, fiel ihr wieder ein. Nicht auszudenken, wenn Lennert heute früh die Titelseite ohne Vorwarnung zu Gesicht bekommen hätte! Reederstochter erliegt nach Anschlag ihrer Schussverletzung – dazu eine weitere Variante des grauenhaften Bildes, auf dem sie sich sogar selbst für tot hielt. Nein, ganz ausgeschlossen, das nicht so schnell wie möglich richtigzustellen. Lennert hätte sich bestimmt etwas angetan.

      Also hatte sie ihn vorgewarnt, hatte ihm von einem geborgten Handy aus eine SMS geschickt: »Ich lebe!« Dazu die dringende Bitte um absolutes Stillschweigen. Und ihr geheimes gemeinsames Codewort. Mehr nicht. Vorerst jedenfalls.

      Genug immerhin, um Daddys Plan zu hintertreiben. »Keiner darf wissen, dass du noch lebst, hörst du? Auch nicht, wohin wir dich bringen werden. Sonst bist du deines Lebens nicht sicher. Versprichst du mir das?«

      Natürlich, Daddy. Sie hatte es ihm versprochen, in die Hand, ohne zu blinzeln. Aber nicht gehalten. Sie hatte Daddy belogen.

      Na schön. Und? Sie war jetzt siebzehn, da galt es, eigene Prioritäten zu setzen.

      Daddy arbeitete schließlich auch nicht immer mit sauberen Methoden. Von wegen »gegenseitiges Vertrauen«! Hatte er wirklich geglaubt, sie würde es nicht merken, dass er sie immer mal wieder ausspionieren ließ? Ihr diesen Schmierlappen auf den Hals hetzte, der sich Privatdetektiv nannte? Gott, wie entwürdigend. Dabei hatte Daddy doch sonst so ein gutes Gespür für Qualität. Mehr als das Honorar dieses Stümpers waren ihre Geheimnisse ihrem eigenen Vater nicht wert? Geradezu peinlich.

      Dumm nur, dass dieser Typ trotzdem erfolgreich gewesen war. Blindes Huhn, na ja, das kannte man. Zum Glück war der Mensch außerdem noch korrupt. Und Stephanie konnte über einiges an Geld verfügen, ohne Daddy gleich Rechenschaft ablegen zu müssen. Doppeltes Glück für sie. Und den Schmierlappen. Pech für Daddy.

      Die Schiffssirene ertönte. Die Fähre legte ab, wendete, nahm Kurs auf die Fahrrinne. Plötzlich saß Stephanie im Schatten und ungeschützt im Wind. So schnell konnten sich die Verhältnisse ändern. Dort, wo die Sonne hingewandert war, waren die Bänke dichter besetzt. Offenbar saßen dort diejenigen, die sich auskannten, die Fähren-Vielbenutzer. Viele junge Leute darunter.

      Ein paar Plätze waren dort noch frei, darunter einer direkt an der Reling. Stephanie schnappte sich ihren Rucksack und setzte sich dorthin. Erneut schloss sie die Augen und genoss das Spiel der Rot-Töne ihrer durchleuchteten Lider.

      »Und, wie sieht’s bei dir aus?«

      Stephanie blinzelte kurz, aber sie war nicht gemeint.

      »Mäßig bis saumäßig. Wie immer halt. Weißt ja, die Pauker sind nicht gerade mein Fanclub.«

      »Bei mir geht’s sogar. Zehn Punkte in Englisch, hätt ich nie gedacht.«

      »Ha, die Bergmann steht doch auf dich, ey!«

      »Blödsinn. Ausgerechnet die.«

      »Teacher’s pet, teacher’s pet!«, tönte es von verschiedenen Seiten. Harmloser Spott, der lachend gekontert wurde. Stephanie war offenbar in eine Gruppe Jung-Insulaner geraten, die zu Ferienbeginn zurück nach Hause fuhren.

      Aha, jetzt hatte sie den Begriff »Nige« aufgeschnappt. Niedersächsisches Internatsgymnasium Esens. Wer auf den ostfriesischen Inseln auf höhere Schulbildung erpicht war, der musste aufs Festland, nach Deutschland. Jahrelang in einer Gastfamilie unterschlüpfen. Oder aber aufs Internat. Eine Horrorvorstellung, dachte Stephanie, aller Verklärung des Internatslebens in den Harry-Potter-Büchern zum Trotz. Zwar hatte auch sie, genau wie der Zauberlehrling, schon früh auf ihre Mutter, die jung gestorben war, und häufig auch auf ihren vielbeschäftigten Vater verzichten müssen. Trotzdem, ein Zuhause war ein Zuhause.

      Außerdem war Stephanie durch mit der Schule. Nicht wirklich, aber innerlich.