Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Negt
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783958298217
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die Menschen, unabhängig von allen partikularen Interessen, direkt auf das Allgemeine beziehen, auf das, was alle verbindet, was für alle verbindlich ist, was formal ist. Die Form macht gewissermaßen die Kraft aus: Bloße Rechtsbehauptung kann also einen Enthusiasmus bewirken, der – völlig unangesehen der eigenen Interessen – dem Volk bestimmt, sich selbst zu befreien.

      Diese Revolution abzüglich der empirischen Revolution drückt sich noch in einem weiteren prekären Punkt bei Kant aus. Er spricht auf der einen Seite von Revolution, von der Revolution eines geistreichen Volkes, und an einer anderen Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von einer revolutionären Denkungsart. Er gebraucht dabei den Begriff der Revolution sehr präzise für die Umstülpung der gesamten Verhältnisse, und gleichwohl sagt er, diese Revolution sei nichts weiter als die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«.

      Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird – indem der Krieg von innen und außen alle bisher bestandene statutarische zerstört [statutarisch bedeutet das traditionelle Naturrecht, im Unterschied zum rationalen, modernen Naturrecht, Anm. Negt], die aber doch dahin führt, zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssüchtig sein kann, nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart.28

      Diese naturrechtliche Verfassung zeichnet sich gegenüber allen bisherigen dadurch aus, dass sie friedlich ist, ihrem Sinngehalt nach auf das Allgemeine verpflichtet, also nicht auf das Partikulare, antagonistisch Kämpfende. Diese per se friedliche Verfassung, wie Kant sie erstrebt, verbietet den Angriffskrieg. Ein wesentliches Element der Kantischen Sichtweise auf die Französische Revolution ist die Tatsache, dass sie Angriffskriege verbiete, diese jedenfalls nicht nötig habe, während für alle feudalen Systeme der Angriffskrieg ein wesentliches Merkmal oder jedenfalls nicht grundsätzlich abgeschafft sei. Darauf, dass in der republikanischen Verfassung der Angriffskrieg, wenn auch nicht empirisch, so doch grundsätzlich aufgrund allgemeiner Regeln abgeschafft ist, kommt es ihm an. Selbstverständlich gibt es Kriege, aber sie sollten nicht sein und sind unter republikanischer Verfassung nicht legitimierbar:

      Nun behaupte ich dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen, unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [hier kommt wieder das ungeheure Pathos Kants zum Ausdruck, was die Französische Revolution betrifft, Anm. Negt] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte.29

      Ich möchte noch einmal die widersprüchlichen Gesichtspunkte kurz zusammenfassen, die sich in dieser Konzeption von Revolution ausdrücken. Kant ist aus systematischen Gründen nicht imstande, einen geschichtlichen Beweis aus der Erfahrung dafür zu gewinnen, dass das Menschengeschlecht im Fortschritt begriffen ist, denn alles empirische Wissen bedarf ja der Vernunftprinzipien und der allgemeinen Grundsätze des transzendentalen Verstandes, um Allgemeines werden zu können. Gleichwohl ist für Kant ein Abderitismus unmöglich, dieses Schwanken der moralischen Grundlage auf ein und derselben Ebene, wäre die moralische Grundlage dann doch eine rein anthropologische Angelegenheit, die sich dem Potenzial nach nicht verändert. Seine »Kritik der praktischen Vernunft« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« waren noch rein auf dieser Grundlage konstruiert, dass die moralische Anlage heute genauso wie vor tausend und zehntausend Jahren gleichgeblieben sei, dass sich gar keine Veränderung vollziehe. Diese Konstanz der moralischen Anlage kann Kant jedoch in einer Zeit, da Umbrüche größten Ausmaßes erfolgen, nicht mehr aufrechterhalten. Inzwischen beginnt eine Erosion des allgemeinen preußischen Landrechts, auch die neuen Rechtskodifikationen beginnen, erste Kritik an den Offenbarungsreligionen wird laut und so weiter. Es werden dogmatische Systeme gestürzt, und nicht nur das: Es werden ganze Staaten durch Revolutionsheere umgekrempelt, die auch nach außen dringen. In diesem Umwälzungsprozess muss Kant zwar die Vorstellung der Unveränderlichkeit aufgeben, allerdings ist er nur imstande, einen vermittelten Hinweis darauf zu geben, wenn man so will, theologisch zu deuten, was sich vollzieht. Es ist ein Fitzel empirischer Realität, ein Teilchen, ein Fanal, ein Hinweis, an dem er zeigen kann, dass doch etwas wie eine Besserung der Menschheit im Moralischen stattfindet. Aber es ist für ihn in dieser Periode nur möglich, das nachzuvollziehen, was sich auch geschichtlich ereignet hat. Die empirische Revolution, die in Frankreich ein wirkliches Ereignis war, wird in Deutschland zu einem virtuellen Ereignis, zu einem Bildungserlebnis. Was später Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« sagt, der Geist aus der Unruhe der französischen Gesellschaft gehe im Bereich der Bildung in die deutsche über,30 das ist bei Kant genau und viel widersprüchlicher ohne irgendwelche Vermittlungsebenen ausgedrückt.

      Diese Konstruktion von empirischen und nicht-empirischen, subjektiven und objektiven Elementen hat natürlich für Kant auch eine Absicherungsfunktion. Alle Philosophen sind sehr kluge Leute gewesen, was die Einschätzung ihrer Machtsituation anbetraf. Meistens haben sie schon Jahre vorausgesehen, was auf sie zukam, und ihre Schriften vorzeitig mit Loyalitätserklärungen versehen. Das gilt auch für Kant, der ein besonders geschickter Taktiker gewesen ist. Die anfechtbarsten Schriften hat er dem königlichen Hause gewidmet, was ihm nicht immer geholfen, aber immerhin zu einem Stillhalteabkommen geführt hat. Kant sagt jetzt: Wenn es revolutionäre Denkungsart gibt, die eine Besserung der moralischen Anlage bezeugt, warum sollte sie sich nicht verbreiten und nicht auch andernorts einen ähnlich massenhaften Charakter annehmen können wie in Frankreich? Doch Kant sieht auch die ungeheuren Gefahren, die darin bestehen, dieses Ereignis der Französischen Revolution in Deutschland oder Königsberg zu feiern, deshalb unterstreicht er, es gehe gar nicht darum, dass die Völker ihre Souveräne beseitigen, sondern es führe im Gegenteil zu einer besonderen Loyalität. Kant sagt:

      […] daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlechte, bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden.31

      Es folgt jener bereits zitierte Passus, in dem Kant erklärt, dass das »Murren der Untertanen« vor allem dann laut werde, wenn die Regierung »Auswärtige […] am Republikanisieren« hindere, worin sich nur des Volkes Liebe zur eigenen Verfassung artikuliere.32 Und je mehr sich andere Völker »republikanisieren«, desto sicherer könne sich das Volk fühlen. Damit sagt Kant im Grunde nichts anderes, als dass alle Völker republikanisch werden sollen außer Preußen. Dann nämlich könne man sich, weil es keinen Angriffskrieg mehr gebe, auch in Preußen sicher fühlen. Diese Ambivalenz des Volkes – ich werde da noch im Einzelnen darauf zusprechen kommen, was darunter zu verstehen ist – beinhaltet ganz Verschiedenes, aber nicht, was bei Hegel anklingt, den Pöbel. Das Volk ist hier ein Souverän der Idee oder den Grundsätzen, nicht aber den Handlungen nach. Um sich selbst zu salvieren, fügt Kant an, »verleumderische Sykophanten« hätten versucht, das Murren »für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung […] auszugeben«, wofür es aber, zumal »hundert Meilen« vom »Schauplatz der Revolution« entfernt, keinerlei Grund gebe.

      Kant versucht, alle empirischen Bestandteile herauszulösen aus der Veränderung der Denkungsart, deren Notwendigkeit sich bestätigt hat. Er negiert im Grunde, dass die Folgen, selbst jene einer Transposition der objektiven Revolution in die Denkungsart, durch Verbreitung in einem anderen Volk gefährlich werden könnten. Selbst diesen empirischen Rest, dass andere Folgerungen aus dieser Philosophie ziehen, muss Kant entfernen, damit so etwas wie ein Allgemeines gelten kann. Nun bedeutet das keineswegs bei Kant, im Übrigen auch nicht bei Hegel, eine schlichte äußerliche Anpassung an die Verhältnisse. Worauf ich hinaus will bei