Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Negt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783958298217
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klar, dass es nicht um einen konstitutiven Zusammenhang geht. Kant behauptet also nicht, dass die Dinge tatsächlich so laufen, aber er liefert uns einen »Leitfaden«47, an dem wir mögliche Absichten der Natur in diesem Prozess verstehen können. Dabei greift er schlicht auf statistische Annahmen zurück, also auf Annahmen, die mit Durchschnittswerten arbeiten. Wie Geburten oder Todesfälle in einem bestimmten Land zu mitteln sind, arbeitet auch er mit Durchschnittswerten von Handlungen und möglichen Absichten, um festzustellen, ob nicht doch im »trostlose[n] Ungefähr«48 etwas wie eine Ordnung stecke.

      Die Menschen wollen zwar alle etwas ganz Verschiedenes; jeder hat seine Vorstellung von Glück und seine Vorstellung von Interessen. Und doch kommt, wie Kant bemerkt, dabei etwas heraus, das grundverschieden ist von dem, was jeder Einzelne gewollt hat, und das eine bestimmte Entwicklungslinie zeigt. Auf dieser Entwicklungslinie, die gewissermaßen einen Durchschnittswert darstellt, wird merkwürdigerweise Vernunft erkennbar. Daran gemessen verhalten sich die Einzelnen vernunftlos. Auch im Krieg laufe alles vernunftlos ab, was aber dabei herauskommt, könnte für Kant etwas Vernünftiges sein, dass nämlich die Völker begreifen, dass sie keine Kriege mehr führen dürfen:

      Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.49

      Die Menschen haben alle ihren Plan oder – nach Brecht – machen einen Plan und noch einen Plan, und beide gehen sie nicht.50 Jeder hat seine subjektiven Pläne und Absichten, seine teleologischen Zweckvorstellungen. Einen Gesamtplan, wie eine weltbürgerliche Ordnung, auf die Kant hinauswill, gibt es jedoch noch nicht. Er fragt sich daher, ob da nicht etwas heranwachse, von der Natur getrieben, was einen Gesamtplan vorbereitet, der allerdings nur durch Vernunft gestiftet werden kann: »Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen.«51 Sehr viele haben sich seither für diesen Mann gehalten, und dass Kant selbst einige benennt, hat im Historismus eine gewisse Rolle gespielt: »So brachte sie [die Natur, Anm. Negt] einen Kepler hervor, der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.«52

      Es geht Kant also bei diesem Leitfaden darum, methodisch festzustellen, ob in der ganzen Gattung eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen zu erkennen ist: ob in der empirischen Welt der Erscheinungen, wo Kausalität waltet, wo nicht Freiheit vorherrscht, Kräfte festzustellen sind, welche Naturanlagen zu entwickeln helfen. Denn »[a]lle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.«53 Dieser Satz zielt auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft nicht nur in der Gattung insgesamt, sondern auch im einzelnen Individuum. Der Zweite Satz ist wie gesagt eine Vernunftbestimmung der Naturanlagen oder anders im Sinne der transzendentalen Reflexion ausgedrückt: Es ist nicht anzunehmen, dass es Naturanlagen gibt, die nicht entwickelt werden sollen. Warum sollte es sie sonst geben? Folglich kann ein Vernunftwesen nicht denken, dass es Naturanlagen des Menschen zur Vernunft gibt, die nicht entwickelt werden sollen.

      Der Dritte Satz lautet entsprechend: »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat.«54 Er sagt hier weiter, das sei eine »Anzeige«: »Die Natur tut nämlich nichts überflüssig, und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab: so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung.«55 Sie finden bei Kant immer wieder diesen Zeichencharakter, Hinweise, um die herum sich empirische Tatbestände organisieren lassen, die das aber nicht ausdrücken.

      Abschließend sei hier noch Kants Antwort darauf wiedergegeben:

      Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren).56

      Hier ist die Verbindung zu Adam Smith offensichtlich, nicht zu jener invisible hand, von der er spricht, sondern insofern als der Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte etwas wie eine gesetzmäßige Ordnung erzeugt: Ordnungslosigkeit erzeugt Ordnung, und wenn jeder seinen eigenen Triebkräften und Neigungen folgt, entsteht doch etwas zum Vorteil aller. Es gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen der bürgerlichen Denkweise, wie Bernard Mandeville (1670–1733) davon auszugehen, dass private Untugend zu öffentlichen Gewinnen führe: privat vices, public benefits.57 Schon in seiner »Bienenfabel« (1714) ist diese Substanz des bürgerlichen Denkens polemisch zusammengezogen, die sich bei Kant unter transzendentalen Gesichtspunkten noch einmal ausdrückt, wenngleich ganz klar ist, dass dasselbe Prinzip in den verschiedenen Theorien auch verschieden gestaltet ist. Was dann bei Hegel auftritt, ist ein absoluter Geist, der durch die Geschichte und die Dinge marschiert, das Allgemeine, das die Besonderheit aufzehrt.

       Geschichte und Naturanlagen

       Vorlesung vom 7. November 1974

      Wir haben gesehen, dass sich in diesen Zusammenhängen bei Kant Momente einer liberalen Weltanschauung und ein Bezug auf Adam Smith ausdrücken. Was dieser, anders als Kant oder auch Hegel und spätere Theoretiker, nicht exakt trifft, ist die bei Mandeville bereits klar beschriebene Annahme, mit der kompletten Realisierung völlig egoistischer Bedürfnisse stelle sich eine Art Gesamtwohlstand automatisch her. Diese Annahme teilt Adam Smith in dieser Weise nicht, auch wenn es eine Rezeptionsgeschichte gibt, die ihm das unterstellt. Doch selbst wenn hier falsche Zuschreibungen stattgefunden haben, prägte jene Auffassung wesentlich das liberale Selbstverständnis, dass sich das Gesamtwohl, das Glück der größten Zahl realisiere im Prozess der rücksichtslos sich abspielenden Durchsetzungen eigener ökonomischer Interessen und Bedürfnisse. Ökonomisch ist, was »Wealth of Nations«58 anbetrifft, ein solcher Mechanismus sehr wohl nachweisbar. Kant hat das als »Maschinenwesen der Vorsehung«59 bezeichnet, hervorgebracht von der Natur, um eine Reihe von Zielen der Menschen gegen deren Willen durchzusetzen.

      Des Weiteren haben wir festgestellt, dass die Französische Revolution ein Hinweis, ein Geschichtszeichen für die Entwicklung von Naturanlagen gewesen sei, wobei zunächst noch offen blieb, was genau das allgemein bedeutet, im spezifischen Fall jedoch eine Anlage zum moralischen Verhalten. Darüber hinaus haben wir den Krieg betrachtet als ein von der Natur installiertes Instrument zur Realisierung, zur Entfaltung und zur Entwicklung von Naturanlagen, die sonst brachliegen würden. Ich habe in diesem Zusammenhang betont, dass sich diese Naturanlagen nur gesellschaftlich in einem Prozess der gesamten Gattung entfalten können. Der Mensch ist bei Kant, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, ein durch und durch gesellschaftliches Wesen, das ohne Gesellschaft buchstäblich nicht existenzfähig ist. Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, von dem Marx in der sechsten Feuerbachthese spricht, ist im Kantischen Begriff vom Menschen nicht nur angelegt, sondern der Mensch konstituiert sich erst in seiner Gattung und das heißt, vermittels anderer, durch Kommunikation mit anderen, durch Gesellschaftlichkeit. Um zu erläutern, warum Vernunft nicht ein schlichtes Postulat für Kant ist, sondern dass Vernunft hervorgetrieben wird durch gesellschaftliche Kräfte,