Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Negt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783958298217
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die Napoleonischen Kriege, wenn er sie noch erlebt hätte, im Sinne der Realisierung dieses Naturzwecks begreifen können, weil sie zerstörte und innerlich ausgehöhlte Systeme mit Gewalt weggefegt und den revolutionären Gedanken auch über die europäischen Fürstentümer gebracht haben. Aber welche Natur bricht sich hier Bahn, um etwas durchzusetzen, was sie selbst nicht ist?

      In der Revolution produziert Natur ihr eigenes Gegenteil, sie produziert eine Verfassung, die Natur beherrscht. Zwei Gesichtspunkte zu diesem Naturbegriff sind dabei wesentlich. So ist der friedliche Zustand der Gesellschaft bei Kant ein unnatürlicher, der mit der Natur des Menschen nichts zu tun hat. Ein friedlicher Gesellschaftszustand muss vielmehr gestiftet werden. Das bedeutet für Kant gleichzeitig, dass die Hobbes’sche Konstruktion eines kriegerischen Zustands zutrifft, des Kampfes aller gegen alle. Er sagt an einer Stelle: »Der Krieg aber selber bedarf keines besonderen Beweisgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.«36 Der Krieg als Ausdruck natürlicher Kräfte und Bewegungen sitzt der menschlichen Natur auf, jenes Naturerbteils, der ihn auch mit der Natur in der »Kritik der reinen Vernunft« verbindet, nämlich dem Dasein unter Gesetzmäßigkeiten. Mit diesem Erbteil hängt der einzelne Mensch an der Gattungsentwicklung, ist er Natur im Sinne des Nicht-Domestizierten. Es gibt zuweilen in Anlehnung an Friedrich II., den man auch den Großen genannt hat, geradezu eine Geringschätzung Kants gegenüber den Menschen. Friedrich II. hat einmal von dieser verdorbenen und verkommenen Rasse gesprochen, die man domestizieren müsse, damit aus ihr etwas werden könne. Kant ist nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf jener der theologischen Betrachtung von der Bösartigkeit der menschlichen Natur überzeugt. Aber gleichzeitig schließt sich diese Bösartigkeit mit dem Vernunftvermögen zusammen: Bei ihm hat, wie bei keinem Denker sonst, der Mensch die Möglichkeit, sich nicht nur von dieser Bösartigkeit, sondern gleichzeitig von der Natur selbst zu lösen. Die Vernunft ist das radikal Andere der Natur. Wie Herder gesagt hat, die Sprache und der aufrechte Gang seien die eigentlichen Elemente der menschlichen Natur, sagt nun Kant, was Instinktsteuerung gewesen ist, muss Vernunft werden. Erst dann sei Emanzipation möglich.

      Außer Frage steht, dass der Krieg zum Grundbestandteil der gesamten Gattungsentwicklung gehört. Aber dieser Krieg ist nicht als Naturzweck, sondern nur als Mittel zu denken, um Zwecke durchzusetzen, die mit diesen Mitteln nichts zu tun haben. Mit anderen Worten ist für Kant der Krieg derjenige materielle Zusammenhang, der nicht nur die Menschen zur Vernunft treibt, sondern auch Verkehrsformen und Verkehrsverhältnisse herstellt, Berührungen zwischen den Völkern, wo Grenzen durchbrochen werden. Der Krieg ist auch in seinen ganz fatalen, von Kant verhassten Formen ein Stück Vorbereitung auf den weltbürgerlichen Zustand. Alles Übel kommt von diesem Krieg, doch Kant ist weit genug Bürger, um darauf zu bestehen, dass der Krieg nicht nur zerstörerisch wirke. Vielmehr ist dahinter ein versteckter Plan der Vorsehung zu vermuten, der die Menschen selbst gegen ihren Willen und sogar gegenüber ihren guten Absichten dazu zwingt, eine naturrechtliche Verfassung in die Realität umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt kommt in der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) einiges zum Tragen, das eindeutig von Adam Smith (1723–1790) stammt. Kant sagt, diese Auseinandersetzung, dieser Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte, die gesellige Ungeselligkeit oder die ungesellige Geselligkeit, treibe darauf hin, wenn es nicht ein sinnloses Spiel sein soll, dass die Menschen sich einigen müssen im Sinne der Erhaltung ihrer Gattung. Im Übrigen hat Kant das Aussterben der ganzen Gattung nie ausgeschlossen. Hegel hat das nicht für möglich gehalten, weil sonst der absolute Geist selbst ausgestorben wäre, aber für Kant war diese Perspektive einer tellurischen Katastrophe, einer Weltkatastrophe in der Menschengeschichte durchaus denkbar.

      Kant geht, wie erwähnt, davon aus, dass der Mensch bösartig ist, andere verletzt, sich nicht an Regeln hält und so weiter. Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass Kant es angesichts der Schöpfung und der Realität als unerheblich ansieht, ob die Menschen zur Vernunft kommen oder nicht. Er argumentiert vielmehr, und darauf hat sich auch Bloch immer wieder bezogen,37 gemessen am Weltall sei der Mensch in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung zwar eine Kleinigkeit. Ihn wegen dieser mediokren Stellung im Naturzusammenhang unverändert zu lassen, sei aber mit Blick auf sein Potenzial eine Verkehrung der Schöpfung.

      Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde, welches, wenn man nicht bloß auf das sieht, was in irgend einem Volk geschehen kann, sondern auch auf die Verbreitung über alle Völker der Erde, die nach und nach daran Teil nehmen dürften, die Aussicht in eine unabsehliche Zeit eröffnet; wofern nicht etwa auf die erste Epoche einer Naturrevolution, die (nach Camper und Blumenbach) bloß das Tier und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren, vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschengeschlechte eben so mitspielt, um andere Geschöpfe auf diese Bühne treten zu lassen, u.s.w. Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.38

      Es gibt also ein kontingentes Moment in der Gesamtentwicklung, und deshalb ist Kant in vielen Punkten ein Materialist. Diese Materie ist für ihn offen, nicht geschlossen, die Katastrophe ist möglich. Die Naturrevolution im Sinne einer Gesamtmutation, die anderen Wesen den Weg öffnet, ist nicht ausgeschlossen. Aber wenn man jetzt wie Jacques Monod, der französische Nobelpreisträger, der ein sehr witziges Buch über »Zufall und Notwendigkeit« geschrieben hat,39 den Menschen als ein kleines Plasmateilchen im Weltall lokalisiert, das eigentlich gar nicht viel ausrichten kann, dann ist das jedenfalls für Kant die Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung, keine Kleinigkeit, sondern eine Verkehrung des Ganzen. Zu schlussfolgern, man könne den Mensch als Kleinigkeit behandeln, ist demnach ein Versuch, aus der Möglichkeit einer Naturrevolution Herrschaft abzuleiten, und gegen diesen Versuch, Herrschaft zu legitimieren, wendet sich Kant entsprechend deutlich.

      Ich möchte hier kurz in wenigen Sätzen einschieben, warum Kant überhaupt auf diese Naturvoraussetzungen bei geschichtlichen Prozessen reflektiert. Dafür will ich den Begriff ›transzendental‹ einführen, den ich bisher nicht erläutert habe, der aber charakteristisch ist für die Kantische Philosophie. Transzendental bedeutet die Feststellung all jener Bedingungen des Denkens und Handelns, ohne die Denken und Handeln nicht möglich sind. Das heißt, transzendental bedeutet immer Reflexion auf etwas und seine Bedingungen. Unter welchen Bedingungen ist also Natur möglich? Kant sagt schlicht, unter der Bedingung, dass es ein apriorisches Gesetz in der Vernunft gibt, das Naturzusammenhang stiftet: Kausalität. Nur deshalb ist Natur möglich. Unter welchen Bedingungen sind ästhetische Gebilde möglich? Unter der Bedingung, dass ein Genie Gesetze für interesseloses Wohlgefallen erlässt. In Bezug auf eine weltbürgerliche oder republikanische Verfassung fragt Kant nun nicht, ob diese notwendig sei. Diese Frage ist für ihn ausgestanden. Sie ist notwendig aufgrund von Vernunft. Aber wie ist sie möglich? Unter welchen Bedingungen lässt sich eine weltbürgerliche Verfassung durchsetzen? Unter welchen Bedingungen kann sie Realität werden? Deshalb tastet er alles in einem gewissermaßen empirischen Verfahren ab: Er fragt nicht, wie sollte der Mensch sein, sondern wie ist er erfahrungsgemäß. Um nun festzustellen, dass die Menschen bösartig sind, braucht man keine große Analyse, ja man braucht dafür noch nicht einmal Erfahrung, sondern das ist etwas Apriorisches.

      Diese Reflexion auf die Bedingungen für die Möglichkeit ist durchgängig bei Kant festzustellen, auch in den geschichtsphilosophischen Schriften. Deshalb fragt er sich: Welche Naturbedingungen machen die friedliche Verfassung der Menschheit subjektiv-transzendental notwendig und objektiv-empirisch möglich, selbst wenn sie noch nicht realisiert ist. Eine solche Möglichkeit ist der Krieg, die Tatsache, dass sich Völker und Menschen bekämpfen und mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es so nicht weitergehen könne. Wenn sie anfangen, Leute zur Schlachtbank zu führen, wenn Fürsten ihre Untertanen verkaufen, um bestimmte Ziele durchzusetzen, dann widerspricht das dem Vernunftgesetz des Schöpfungszwecks: Es kann nicht Sinn der Schöpfung sein,