»Unser Mann heißt Groenewold«, begann er. »Professor Dr. Ulfert Groenewold. Bis vor Kurzem Dozent an der Uni Oldenburg. Spezialist für Sprache und Literatur der Niederlande. Irgendwie naheliegend für einen gebürtigen Ostfriesen. Allerdings fristet die Niederlandistik in Oldenburg ein Schattendasein, und Groenewold ist ehrgeizig. Aus seiner Unzufriedenheit mit seiner untergeordneten Position im Fachbereich und seiner hohen Lehrverpflichtung hat er nie ein Geheimnis gemacht. Er wollte vor allem forschen, wollte einen eigenen Lehrstuhl mit Sekretariat und mit Assistenten, die in seinem Namen die lästigen Seminare und vielen Korrekturen erledigten. Und er wollte auch mehr Geld. Also musste er aus Oldenburg weg.«
»Völlig normal im Universitätsbetrieb. Man publiziert so viel wie möglich, das steigert den eigenen Marktwert, man bewirbt sich auf jede passende Stelle, wird zu Gastvorträgen eingeladen, und irgendwann klappt es dann.« Sina zuckte die Achseln. »Natürlich schafft es nicht jeder. Die Stellenpyramide verjüngt sich nach oben hin, und die Konkurrenz wird immer härter. Man muss sich halt durchsetzen können.« Ein Gedanke, der ihr mehr zu schaffen machte, als sie zugeben wollte. Sie stand kurz vor ihrem Abschluss in Psychologie, und wenn sie weiterhin an der Oldenburger Uni bleiben wollte, würde sie sich wohl auch in dieses Haifischbecken stürzen müssen.
»Groenewold hat sich hier in Essen beworben«, fuhr Stahnke fort. »Vielmehr an der Universität Duisburg-Essen, Standort Essen, Fachbereich drei. Niederlandistik gehört hier zur Germanistik. Ausgeschrieben war eine C4-Professur, gut dotiert und ausgestattet mit allem Drum und Dran. Entsprechend groß war der Bewerberandrang. Schon, dass Groenewold von der Berufungskommission eingeladen wurde, war ein großer Erfolg. Und man war auch ganz angetan von ihm. Unser Mann durfte sich Hoffnungen machen.«
Sina schnippte mit den Fingern. »Sag mal, Groenewold – ziemlich groß, schlank, kurzer Vollbart, schmale Brille, heller Anzug mit bunter Fliege? Noch keine vierzig Jahre? Den kenne ich. Ich meine, vom Sehen, aus der Mensa und so. Hat dort einen Stammplatz. Hält regelrecht Hof. Klar, als Prüfer hat er eine Machtposition, aber – glaub mir, Studenten können echt peinlich sein.«
»Er hat eine gewinnende Art«, sagte Stahnke. »Nicht zuletzt diese Tatsache brachte ihn oben auf die Berufungsliste. Allerdings nicht ganz nach oben, sondern auf Platz zwei. Manchmal reicht das schon, denn oft haben die qualifiziertesten Kandidaten mehrere Eisen im Feuer und verzichten im letzten Moment, weil es anderswo eine noch lukrativere Stelle gibt. Also kann man auch als Zweiter durchaus der Sieger sein. Allerdings nicht in diesem Fall.«
»Und wer hat die Stelle bekommen?«
»Ein gewisser Dr. habil. Friedemann Salewski. Mitte vierzig. War bis dahin Wissenschaftlicher Rat an der Uni Bielefeld. Karrieretechnisch eine ziemliche Sackgasse, habe ich mir sagen lassen. Salewski wollte unbedingt da weg – und er wollte unbedingt hierher. Genauer: hierher zurück. Er ist nämlich gebürtiger Essener, stammt aus Heisingen. War als Jugendlicher begeisterter Jollensegler beim Heisinger SC. Hat sein Elternhaus am Fährenkotten, das er schon als Student erbte, nicht verkauft, sondern vermietet, mit Eigenbedarfs-Vorbehalt, weil er eines Tages wieder darin wohnen wollte. Und er hat, seit er als Wissenschaftlicher Assistent regelmäßig verdiente, eine eigene Segelyacht auf dem Baldeneysee. Viel mehr Heimatverbundenheit geht nicht.«
»Kaum.« Sina nickte. »Jede Menge Motivation, vor allem, weil solche Stellen ja nicht alle Jahre ausgeschrieben werden. Dieser Salewski muss um die C4-Stelle gekämpft haben wie eine Kanalratte. Na ja, als Essener Jung hatte er bestimmt noch alte Kontakte. Sowas hilft ja auch.«
Stahnke hatte endlich eine der überforderten Bedienungen erwischt und war seine Bestellung losgeworden. »Klar hat er gekämpft«, sagte er dann. »Beide haben sie das. Scheint aber alles relativ fair zugegangen zu sein. Schließlich waren die beiden befreundet.«
»Ach. Das macht die Konkurrenzsituation ja besonders pikant. Wie kam es denn dazu?«
»Die Niederlandistik ist hierzulande ein überschaubares Fachgebiet«, sagte Stahnke. »Die Spezialisten treffen sich fast zwangsläufig andauernd, bei Kongressen, Fachtagungen und so weiter. Dazu kommt, dass auch Groenewold Segler ist; für einen Ostfriesen aus Leer, der Ems und Nordsee praktisch vor der Haustür hat, ein naheliegendes Hobby. So kamen sie ins Gespräch. Und weil beide zudem Junggesellen sind, fanden sich schnell Termine für gemeinsame Segeltouren.«
»Ach, höre ich da etwa Neid heraus? So schnell schon wieder Sehnsucht nach der Ungebundenheit? Tja, wenn das so ist …«
Stahnke beschränkte sich darauf, ihr die Zunge herauszustrecken, und fuhr fort: »Die Stelle in Essen war nicht die erste, bei der sie gegeneinander antraten. Sie konnten also mit der Situation umgehen. Klar, dass diesmal beide besonders scharf auf den Jackpot waren. Beide wegen des Karrieresprungs und des Geldes, Salewski zudem noch aus Heimatverbundenheit. Sowohl er als auch Groenewold gelten in Fachkreisen als hochkompetent und sind formal für die Stelle hinreichend qualifiziert. Beeindruckende Publikationslisten, Bücher und Artikel in erstrangigen Verlagen und Zeitschriften. Auch vor der Berufungskommission haben beide geglänzt, jeder auf seine Weise. Groenewold souverän und eloquent, Salewski faktensicher und detailversessen. Die Entscheidung fiel letztlich nur zwischen diesen beiden. Allerdings war sie eindeutig. Salewski sollte es sein.«
Bier und Cola kamen schneller als erwartet. Stahnke zahlte und gab, durstig wie er war, ein großzügiges Trinkgeld. Er prostete Sina zu.
»Salewski erhielt also den Ruf, wie es so schön heißt«, fuhr er dann fort. »Er sagte zu, unterschrieb auch den Vertrag, kündigte den Mietern seines Heisinger Hauses fristgerecht, begann damit, seinen Bielefelder Haushalt aufzulösen. Gleich zu Semesterbeginn sollte er seine Antrittsvorlesung in Essen halten, eine Traditionsveranstaltung, zu der neben etlichen Studenten auch Salewskis neue Kollegen erschienen. Der größte Hörsaal des Fachbereichs war proppevoll, und man wartete geduldig. Jedenfalls bis Viertel nach acht. Danach wartete man schon deutlich ungeduldiger. Und vergeblich. Professor Salewski erschien nicht. Zu seiner eigenen Show.«
»Und warum nicht? Wie hat er das denn begründet?«
»Gar nicht«, sagte Stahnke. »Es hat ihn nämlich niemand mehr zu Gesicht bekommen. Friedemann Salewski ist seither verschwunden.«
Sina hob die Augenbrauen. »Ach, daher weht der Wind! Groenewold ist wohl ein schlechter Verlierer. Gratuliert dem Sieger mit zusammengebissenen Zähnen, lädt ihn scheinheilig zum Cocktail auf seine Yacht ein, macht ihn besoffen und schlenzt ihn bei Tonne 13 über Bord. Weil er ja weiß, dass die Nummer zwei automatisch nachrückt, wenn die Nummer eins die Stelle nicht antritt. So in etwa?«
Stahnke schmunzelte. »Wenn du mich fragst, ja. Mit ein paar signifikanten Abweichungen allerdings. Die Einladung zur Feier kam nämlich von Salewski, die Tour fand auf dem Baldeneysee statt, und Groenewold brachte Rotwein mit. Das Ganze an einem sonnigen Sonntag. Ablegen, ein paar Schläge segeln, paar Gläschen zechen, Zwischenstation machen, ein feines Mahl im Restaurant Hügoloss, wieder Rotwein und zwei Ouzo pro Nase, anschließend unter Motor zurück zum Hafen des Essener Yachtclubs, wo Salewski Dauerlieger ist. Letzteres eindeutig eine Straftat, von wegen Alkohol am Ruder. Das war’s dann aber auch schon an Eindeutigkeit. Keine signifikante Spuren, weder in Salewskis Haus noch in dem von Groenewold in Leer, auch nicht auf der Yacht. Keinerlei bezeugte Beobachtungen eines möglichen Tathergangs. Keine Waffen oder waffenähnlichen Gegenstände. Kein Blut. Und vor allem gibt es keine Leiche.«
»Und das, was du mir eben erzählt hast …«
»… entstammt der Aussage von Professor Groenewold, genau. Er war sehr kooperativ, und soweit sich seine Angaben überprüfen lassen, stimmen sie genau. Der Wirt vom Hügoloss zum Beispiel, ein gewisser Christos Kokkinidis, erinnerte sich genau. Und der Hafenmeister vom Yachtclub hat die beiden auslaufen sehen. Einlaufen allerdings nicht, es gab da irgendwelche Bauarbeiten, um die er sich kümmern musste, viel Dreck und Lärm, das hat ihn ganz in Anspruch genommen. Schade.«
Das Dröhnen der Schiffmaschine, das die Heisingen bisher in beruhigend gleichmäßige Vibrationen versetzt hatte, änderte seinen Rhythmus, wurde langsamer und tiefer. Das weiße Fahrgastschiff näherte sich wieder einmal einem seiner Anleger, die rund um den langgestreckten,