»So.« Kramer verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und wippte auf seinen Fußballen auf und ab. »Der Sohn also. Erbt er?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Stahnke. »Globisch und seine Mutter haben sich doch gehasst und zuletzt bis aufs Messer bekämpft. Klar, dass sie ihn enterbt hat. Bis auf den Pflichtteil.«
»Aha.« Kramer wippte weiter. »Als Motiv bliebe also Hass, nicht aber Gewinnsucht. Ein starkes Motiv, aber nicht so stark wie beides zusammen. Du sagtest, Frau Janssen sei verwitwet gewesen?«
»Ja, in der Tat. Aber …«
»Lebte sie allein?«
»Keine Ahnung.« Stahnke brauste auf: »Sag mal, wird das hier ein Verhör?«
Kramer ging nicht darauf ein. »Ich habe das Foto gesehen, das die Vermisstenstelle von ihr hat. Nicht mehr die Jüngste, aber doch ansehnlich restauriert. Die lebte bestimmt nicht allein, habe ich mir gedacht. Wozu sonst dieser Aufwand?«
Stahnke zuckte stumm die Achseln. Kramers Auftritt verschlug ihm die Sprache.
»Und tatsächlich hatte sie einen neuen Lebenspartner. Ein Anruf hat genügt, um das herauszufinden. Vorhin, als du mich losgeschickt hast, einen Wagen holen. Per Handy.« Er schnippte mit den Fingern. »Mal eben so.«
Jetzt sackte dem Hauptkommissar auch noch der Unterkiefer weg.
»Bei Frau Janssen ging die Liebe nicht durch den Magen, sondern durchs Portemonnaie«, fuhr Kramer fort. »Sie war schon seit ihrer ersten Ehe nicht arm, aber als durch den Tod ihrer Mutter noch ein weiteres Haus samt Grundstück und Mieteinnahmen dazu kam, suchte sie sich professionelle Hilfe. Denn nichts war ihr verhasster, als Steuern zu zahlen. Zum Glück fand sich schnell jemand, der ebenso wenig Skrupel hatte wie sie und sie davor bewahrte. Ebenfalls schon angegraut, aber noch gut erhalten. Zum Dank ließ sie ihn nicht nur an ihr Geld, sondern auch in ihr Bett.« Einmal noch wippte Kramer, und seine Augenbrauen schienen dabei oben zu bleiben. »Der Mann ließ sich nicht lange bitten und griff zu. Allerdings etwas gründlicher, als Frau Janssen erwartet hatte, denn er war ebenso habgierig wie sie.«
Stahnke klappte den Mund wieder zu. Er ahnte, wen Kramer angerufen hatte.
»Er nahm sie regelrecht aus, brachte Teile ihres Besitzes in die eigene Hand und hatte das wohl mit dem Rest noch vor. Frau Janssen aber kam dahinter«, fuhr der Oberkommissar fort. »Es gab eine Auseinandersetzung, eine lautstarke, wie mein Telefonpartner berichtete. Seitdem ist Frau Janssen verschwunden.«
Über die Auffahrt des vorderen Grundstücks näherten sich Schritte. Ein uniformierter Polizeibeamter erschien in der Zaunlücke, einen erwartungsvoll hechelnden Schäferhund an der Leine, und grüßte. »Wo fangen wir an? Das neue Pflaster hier?«, fragte er.
Kramer öffnete den Mund, aber Stahnke schnitt ihm das Wort ab. »Nein«, sagte er. »Eher doch nicht. Sondern im Garten des vorderen Hauses. Am besten beim Komposthaufen.«
Ein quietschendes Geräusch näherte sich. Stahnke drängte sich am Hundeführer vorbei. »Herr Becker, bleiben Sie doch einmal stehen.«
Der Mann mit dem eisengrauen Haarschopf riss erschrocken die Augen auf, ließ die Karrengriffe los und begann zu laufen. Ehe Stahnke reagiert hatte, war Kramer schon an ihm vorbei gesprintet. Becker senior schaffte es nicht einmal vom Grundstück herunter. So sehr er sich auch sträubte, gegen Kramers routinierten Griff hatte er keine Chance.
»Platz«, sagte der Hundeführer, nachdem sein Leichenhund neben dem frisch aufgehäuften Kompost angeschlagen hatte, und: »Brav.« Zur Belohnung ließ er das Tier an einem bunten Knotentau zerren. »Klarer Fall, die Leiche ist da drin.« Zu Stahnke gewandt, fügte er hinzu: »Aber das wusstet ihr natürlich schon wieder mal vorher, was?«
Der Hauptkommissar nickte versonnen. »Tja. Älterer, gieriger Liebhaber nimmt reiche Witwe aus, packt seinem eigenen Sohn die Leiche in den Garten, während der Verdacht auf den Sohn der Ermordeten fällt. Clever. Aber nicht clever genug.«
Kramer näherte sich, am Arm den inzwischen gefesselten Becker.
Stahnke beugte sich vor und raunte dem Hundeführer zu: »Jedenfalls für einige von uns.« Er grinste.
Kramer Miene blieb unbewegt wie ein Pflasterstein.
Essener Dauerlieger
»Ich traue dir nicht«, sagte Sina.
Stahnke mimte den Empörten. »Waas? Na hör mal, ich bin Beamter!«
»Sei froh. Als Schauspieler bist du nämlich echt schlecht.« Das letzte Wort sprach sie mit einem genüsslich in die Länge gezogenen »ä«, während sie sich über den kleinen Tisch beugte, die Ellbogen aufstützte und ihr Gegenüber kritisch fixierte. Ihr leichtes Sommertop war tief ausgeschnitten, und Stahnke gönnte sich einen ebenso tiefen Blick.
»Hallo, mein Gesicht ist hier oben!«
»Ich weiß. Aber die Konkurrenz ist zu zweit. Au!« Etwas zu spät zog Stahnke seine Füße zurück.
»Lustmolch, vertrauensunwürdiger. Sowas gehört getreten.« Sina spitzte die Lippen, schnappte freihändig nach ihrem Strohhalm und nuckelte an ihrer Cola.
Stahnkes Lächeln zog sich in die Breite, bis der Hauptkommissar tatsächlich fast wie ein Molch aussah. Nach mehrjähriger Pause war er erst seit ein paar Wochen wieder mit Sina Gersema zusammen, sein Glück war noch ganz frisch und prickelnd und schäumte bei jeder Gelegenheit auf und über. Da reichte schon die bloße Erwähnung des Wortes ›Lust‹, egal in welcher Kombination.
»Warum beschimpfst du mich eigentlich so wüst?«, fragte er, während er nach seinem Bierglas griff. Es war leer. Keine Bedienung weit und breit. An diesem herrlichen Samstag war die MS Heisingen rappelvoll. An die dreihundert Passagiere drängten sich um die Tische an Oberdeck und in den Salons, um den Baldeneysee in der Frühsommersonne zu genießen, da hatte das Servicepersonal alle Hände voll zu tun.
Sina legte ihr Kinn auf die verschränkten Finger und senkte ihre langen Wimpern. »Weil ich dich kenne«, antwortete sie leise. »Von wegen, keine Hintergedanken! Eine Einladung zum gemütlichen Wochenendausflug, zusammen essen, Schiffchen fahren, ein bisschen sonnen … und das alles ohne dienstlichen Hintergrund? Nee, mein Lieber, das kauf ich dir nicht ab. Das passt nicht zu dir.«
»Aber wieso denn?« Stahnke breitete die Hände aus. »Genau das machen wir doch gerade! Ich meine, Ausflug und, äh, Schiffchen. Und was Essen betrifft – guck dich doch um! Ist das da am Ufer etwa nicht Essen?«
»Als Witzbold taugst du auch nichts«, erwiderte Sina. »Aber jetzt sag schon. Wen musst du hier verhören? Was wirst du durchsuchen? Oder geht es um eine Verhaftung?«
Stahnke seufzte. »Man hätte euch Frauen das Psychologiestudium besser doch nicht erlauben sollen.« Diesmal bekam er seine Füße rechtzeitig hoch, um Sinas Tritt auszuweichen.
Er lehnte sich zurück, schaute über die Reling hinaus auf den See, der geradezu kitschig blau, vom leichten Wind sanft gekräuselt und mit weißen Segeln verschiedenster Größen gesprenkelt war. Ein Anblick, der sämtlichen Vorurteilen über das Ruhrgebiet spottete. Selbst ein seelandschaftsverwöhnter Küstenbewohner konnte ihn genießen.
Genau das hatte Professor Groenewold auch gesagt.
Stahnke drehte sich zurück; Sinas goldbraune Augen erwarteten ihn schon. »Ja, du hast recht«, sagte er. »Tut mir leid. Ich hätte es dir gleich sagen sollen. Es ist aber wirklich nur eine Kleinigkeit, dauert nur ein paar Minuten. Keine Befragung oder Verhaftung oder so.« Er zuckte die Achseln. »Eigentlich der Fall sowieso schon abgeschlossen.«
»Solche Kleinigkeiten haben dich ja noch nie an irgendwas gehindert.« Sina grinste spöttisch. »Nun erzähl schon.«
Der Hauptkommissar rieb sich die weißblonden Haarstoppeln. Sie fühlten sich feucht an. Obwohl er in den letzten