Das Zimmer, das hier entstand, hatte sogar schon eine Decke. Es ging nach Westen hinaus, würde einmal schönes Abendlicht haben, und im Sommer würde man von hier aus die Sonne untergehen sehen, falls der Grundstück schräg gegenüber nicht eines Tages doch noch bebaut wurde. Hier würde er später einmal sitzen, hinter einem hohen zweiflügeligen Fenster, das sich im Sommer wie eine Terrassentür öffnen ließ, hier würde er gute Bücher lesen und dazu Musik hören, wann immer ihm der Job Zeit dazu ließ. Ach ja, Zukunftsmusik.
Oder vielleicht doch nicht, korrigierte er sich, als sein Blick auf den staubigen CD-Player fiel. Anscheinend fanden auch die Dachdecker, dass sich dieser Platz hervorragend als Musikzimmer eignete. Nun ja, warum auch nicht. Gegen Musik bei der Arbeit war ja nichts einzuwenden.
Neben dem CD-Player, in der Zimmerecke, die der Fensteröffnung gegenüber lag, leuchtete gelbe Mineralwolle, hochwertiges, dickes Isoliermaterial, Symbol für die nächste Ausbaustufe. Nur lag es da nicht in Rollen, so wie es geliefert worden war, sondern flach, in drei Schichten übereinander. Darüber ein Stück Plastikplane. Und oben drauf eine Wolldecke.
Stahnke pfiff leise durch die Zähne. Von »Musik bei der Arbeit« konnte hier wohl nicht die Rede sein. Das hier sah stark nach einem Liebesnest aus. Eins, in dem auf seine Kosten …
Der Hauptkommissar grinste wider Willen. Auch, weil ihm plötzlich die Doppeldeutigkeit der Begriffe »Nageln« und »Decken« in den Sinn kam. Vor allem aber, weil er sich an seine eigene Schul- und Ausbildungszeit erinnerte. Ein richtiger Casanova war er zwar nie gewesen, aber wenn sich mal die Gelegenheit bot … zum Beispiel in dem Lager des Möbelhauses, für das er einige Zeit lang als Auslieferungsfahrer gejobbt hatte. Da gab es eine Verkäuferin, Monika hieß sie wohl, handfest und sommersprossig, ja, dieser Annika gar nicht einmal so unähnlich. Zwei, drei Jahre älter und erfahrener als er. Die hatte genau gewusst, was sie wollte, hatte ihn gelegentlich abgepasst, wenn er eine Lieferung abzuholen hatte, und dann war immer alles vorbereitet gewesen. Matratze, Wolldecke, ja, auch der Kassettenrekorder zum Übertönen verräterischer Geräusche stand bereit. Immer mit derselben Musik drin. Abba, ach herrje, was waren das für Zeiten! Nachher war er immer froh gewesen, dass er im Führerhaus seines Siebeneinhalbtonners alleine war und niemand seine geröteten Wangen sehen konnte. Und immer hatte er Super Trooper vor sich hin gepfiffen, den Song, der genau an der Stelle der Kassette kam, wenn sie beide …
Er bückte sich. Der CD-Player stand auf Pause. Stahnke drückte auf Start.
Paint it black, röhrte Mick Jagger.
Der Hauptkommissar trat in die Fensteröffnung, die bis zum Zimmerboden reichte. Keinerlei Geländer oder Absperrung, und genau darunter auf dem Rasen befand sich der Balkenhaufen, auf dem die Leiche des schönen Kevin gelegen hatte. Hier oben also war der Mord geschehen, nicht dort unten. Hier, wo der schöne Kevin den Song als Begleitmusik gehört hatte, den er anschließend unwillkürlich vor sich hin pfiff. Verräterisch für jeden, der den Zusammenhang kannte.
Warum aber wurde Kevin getötet? Hatte Annika sich gewehrt, als er sie mit Gewalt auf die gelben Matten zerren wollte? Oder war sie zwar zunächst seinem Charme erlegen, hatte dann aber genug von ihm gehabt? Wollte er sie erpressen, hatte er gedroht, sie bei ihrem Freund anzuschwärzen? Gründe genug, und der Druckluftnagler war immer zur Hand.
Vielleicht aber war auch der freundliche Marco heimlich in Annika verliebt gewesen. Zu schüchtern, um etwas zu sagen, hatte er sich aufs Gucken beschränkt, hatte die beiden überrascht und war ausgerastet. Zack, zwanzig Nägel.
Oder gar der fette Harms. Ja was denn, auch dicke Dachdecker waren zu Seitensprüngen fähig. Oder mochten sich zumindest welche wünschen. Und jähzornig sein konnten sie bestimmt auch.
Verdammt, alles war möglich. Nach wie vor kam jeder der drei überlebenden Handwerker als Täter in Frage.
»Alle drei«, grummelte Stahnke vor sich hin. »Mist. Warum denn nicht mal einfach nur einer?«
Er drehte sich langsam um, schlurfte weg von der Fensteröffnung, zurück zum Treppendurchbruch, zurück zu Kramer und dem ungelösten Fall, die dort unten auf ihn warteten.
Sein Fuß stieß gegen etwas, das zwischen all dem herumliegenden Dreck kaum zu identifizieren war. Erneut bückte er sich.
Eine Streifbandzeitung. Ganz neu, von heute, ungeöffnet. Der Ostfriesische Kurier. Name und Anschrift des Abonnenten waren aufgedruckt.
Er kniff die Augen zusammen und korrigierte sich: Name und Anschrift der Abonnentin.
»Sie ist noch ein zweites Mal gekommen, wie jeden Tag«, erklärte Stahnke, als alles bereits erledigt war. »Eher als sonst, denn die Post war ungewöhnlich früh dran, und sie ist sofort los, weil sie noch einkaufen wollte. Und weil sie Kevin am Morgen pfeifen gehört hatte. Schließlich kannte sie ihn ja gut genug – ihn und den Song. Männer wechseln selten ihre Vorlieben. Wie auch immer. Harms und Marco waren oben auf den Balken, Dachlatten annageln. Kevin war in seinem Liebesnest, den Werkzeuggürtel noch nicht wieder angelegt. Vögelchen Annika war vermutlich schon wieder ausgeflogen, aber der CD-Player lief noch. Paint it black, der Song, den Kevin immer vor sich hin gepfiffen hat. Für Gaby war die Situation eindeutig. Tja.« Er nickte versonnen. »Bei all der Ballerei ringsumher fiel ihre Extra-Nagelsalve nicht weiter auf.«
»Woher wusste sie denn, wie so ein Druckluftnagler zu bedienen ist?«, fragte Kramer, als gäbe es noch etwas zu klären.
Stahnke machte eine wegwerfende Bewegung: »Handwerkerfrauen wissen so etwas. Außerdem hat sie gestanden, also, was willst du?«
»Die anderen drei sind also unschuldig. Da hast du ihnen ja ganz schön unrecht getan.«
»Beinahe unrecht, bitteschön. Beinahe. Das ist ein Unterschied.« Im Wohlgefühl seines Triumphs nahm Stahnke die Stichelei seines Kollegen gelassen hin. »Obwohl, wäre ja ganz schön gewesen, wenn der dicke Harms der Mörder wäre. Der ist mir irgendwie unsympathisch. Außerdem – vielleicht unterschlägt der ja wirklich Baumaterial. Mein Baumaterial!«
Kramer zuckte die Schultern: »Ach was. Der dicke Dachdecker deckt dir doch dein Dach. Drum dank doch dem dicken Dachdecker, dass der dicke Dachdecker dir dein Dach deckt.« Sprach’s, wandte sich um und schlenderte davon.
Stirnrunzelnd blickte Stahnke ihm nach. Auch als Kramer längst außer Sicht war, wollte das Gefühl, gründlich veräppelt worden zu sein, einfach nicht abklingen.
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