Eisaugen. Margit Kruse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margit Kruse
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839236000
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saßen in seiner Wohnküche, eines seiner zwei Zimmer. Der Tisch stand mitten im Raum und trotzdem nahe am Fenster. Vier Stühle waren darum drapiert. An der Wand vor ihr stand ein Gelsenkirchener Barockschrank, daneben befanden sich die Spüle, der Herd sowie der Kühlschrank. Hinter ihr hatte ein altes Sofa seinen Platz, dicht davor ein Tischchen mit einem Fernsehgerät. Der Raum war zwar spartanisch eingerichtet, aber alles war sauber, worüber sie erstaunt war. Sie hoffte inständig, das Schlafzimmer nicht sehen zu müssen.

      Wie lange muss man zu einer Mittagessenseinladung bleiben? Wann kann ich gehen, ohne unhöflich zu wirken? Diese Fragen geisterten in ihrem Kopf.

      Er prostete ihr mit dem Chardonnay-Wasserglas zu.

      »Ich heiße Karl-Heinz! Meine Freunde nennen mich Charly!« In seinem Blick lag so viel Freude, dass sie nicht anders konnte, als nett zu ihm zu sein. Das Helfersyndrom! Da war es wieder!

      »Ich heiße Margareta!«, erwiderte sie und zwang sich, ihn freundlich anzusehen.

      »So ein schöner Name!«, strahlte er sie an.

      Beruhigt stellte sie fest, dass in seinem Mund Zähne vorhanden waren. Sie lagen zwar tiefer, als es normalerweise der Fall war – ein tiefer gelegtes Auto war für manche etwas Tolles –, aber immerhin hatte er welche. Trotzdem ein komischer Kerl.

      Nachdem er eine halbe Flasche Chardonnay intus hatte, wurde er redseliger und berichtete ihr aus seinem bescheidenen Leben. Er ließ sie kaum zu Wort kommen und erzählte, während er das dünnflüssige Apfelmus schlürfend in sich aufsog, alles, was er schon längst mal jemandem mitteilen musste.

      Wieso immer ich?, schrie eine Stimme in ihr. Wieso muss ich mir seine Lebensgeschichte anhören? Das kann doch alles nicht wahr sein! Wohin wird mich meine Gutmütigkeit noch bringen?

      Als er anfing, Details von seiner Tätigkeit als Leichenwäscher, damals, vor zehn Jahren, zu erzählen und ihr Fotos von besonders schönen Leichen zeigen wollte, stand sie abrupt auf und verabschiedete sich unter dem Vorwand, zu ihrer Mutter zu müssen.

      Wenn Waltraud wüsste, mit wem sie heute gespeist hatte, sie würde einen Anfall bekommen und ihre Tochter für verrückt erklären. Immerhin war Margareta so schlau, ihr Hirn einzuschalten, um bloß keine Gegeneinladung auszusprechen. Zu Ostern vielleicht? Fest der Freude und Fruchtbarkeit! Oh nein, genug der Barmherzigkeit!

      Sie machte sich unmittelbar auf den Weg zu ihren Eltern. Sie brauchte jetzt einfach Abwechslung. Einen Kontrast zu diesem Idyll. Auch auf die Gefahr hin, dass wieder mal der Leichenfund auf dem Friedhof durchgekaut werden würde.

      Als sie in das verräucherte Wohnzimmer ihrer Eltern kam, dachte sie, sie betrete eine Kneipe zu bester Stunde. Alle redeten gleichzeitig, euphorisch laut, schienen auf Drogen zu sein. Auf dem altdeutschen Mohairsofa saß in der Mitte ihr Vater, rechts daneben ihr Bruder Gisbert, links seine Frau Heidrun. Auf der kleinen Zweiercouch unter dem Fenster ihr Neffe, der ganz nach seiner Mutti kam, daneben Irene Walter, die Nachbarin. Auf dem Sessel gegenüber, in einem weißen Arztkittel – wo sie den bloß wieder herhatte –, Margaretas Mutter.

      Die Halbglatze ihres Vaters glänzte wie eine in Öl geröstete Erdnuss. Sein weißes Oberhemd spannte über seinem Bauch, den er stolz herausstreckte. Er übertönte mit seiner sonoren Stimme die anderen, fuhr, wie immer, wenn er einen sitzen hatte, den anderen über den Mund, wusste alles besser, hatte alles selbst schon mal erlebt. Sie fragte sich, was an so einem Feiertag, im Kreise der Familie, die Nachbarin Irene Walter hier verloren hatte. Margareta mochte sie nicht. Ihr Vater dafür umso mehr. Er starrte ihr in den immens tiefen Ausschnitt ihres selbst gehäkelten Pullovers und wäre offensichtlich mit seiner fettigen Nase am liebsten zwischen ihre faltigen Brüste gekrochen.

      Ihre Mutter holte Margareta einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn so hin, dass sie ihrem Vater gegenübersaß. Margareta wusste, wie das nächste Stadium seiner Feiertagsschnapslaune aussehen würde. Krampfhaft würde er in seinem Hirn nach schlüpfrigen Witzen kramen, um sie zum hundertsten Male kundzutun und die Reaktionen der anderen zu testen. Irene Walter würde am lautesten lachen, ja, regelrecht quieken, und sich nach hinten werfen. Und ihr Vater würde immer geiler werden.

      Kurz darauf kam es, wie sie prognostiziert hatte. Es folgte ein hohler Spruch aus der untersten Schweinkramschublade ihres Vaters, den er mit feuchter Aussprache in den Raum schrie und Irene grunzte wie ein Ferkel: »Huch, Günther, hä, hä, hä, du bist aber ein ganz Schlimmer!«

      Spätestens jetzt hätte sie an ihrer Mutter Stelle die gute Nachbarin an Hals und Kragen gepackt und vor die Tür gesetzt. Ihrem Vater hätte sie die Flasche Ouzo weggenommen. Aber Waltraud Sommerfeld tat nichts, saß nur da, in ihrem unmöglichen gestärkten Kittel, und erduldete mit Gönnerblick das Gockelgehabe ihres Mannes.

      Wieso hat man nicht Irene Walter ermordet? Eine so junge Frau musste sterben, und sie darf weiter die ganze Nachbarschaft närrisch machen, dachte sich Margareta.

      »Warum bläst du ihm nicht mal den Marsch?«, fragte Margareta ihre Mutter wenig später in der Küche, als sie sich traurig an den Abwasch machte.

      »Ach, Kind, du weißt doch, wie er ist. Er meint es nicht so«, verteidigte sie ihren Vater zu allem Überfluss.

      »Aber es stört dich doch! Ich finde es widerlich, wie er sich aufführt!« Margareta konnte und wollte ihre Mutter nicht verstehen. Auch als Nur-Hausfrau muss man sich nicht alles gefallen lassen. Bevor sie gleich wieder mit Sprüchen kam wie: ›Ich hatte es bei ihm immer gut und brauchte nie arbeiten zu gehen‹, wechselte Margareta das Thema und kam auf den Leichenfund zu sprechen. Sofort hellte sich das Gesicht ihrer Mutter auf und die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. Margareta bekam die neueste Zusammenfassung aller Ereignisse und Berichterstattungen der Nachbarn in Kurzform geliefert.

      5.

      Margareta saß auf dem wackeligen Barhocker in dem dunklen Reiterstübchen und nippte an ihrer Cola, die ihr die Frau mit den langen Haaren soeben hingestellt hatte. Für ihr Alter, Margareta schätzte sie auf Ende 40, war ihre Walla-Walla-Frisur eher untypisch. Ihr Gesicht war sonnengebräunt und hatte feine Züge. Ihre Augen blickten traurig, aber dennoch wachsam. An der gegenüberliegenden Wand hing ein gerahmtes Foto, welches eine strahlende junge Frau in Reitermontur an der Seite eines Pferdes zeigte. Die gleiche Ausgabe Frau in jung. Das musste ihre Tochter Sabine sein, die man ermordet auf dem Friedhof gefunden hatte. Morgen wird sie beerdigt und ihre Mutter bediente hier seelenruhig Gäste. Oder war sie vielleicht gar nicht so ruhig, wie sie schien? Brauchte sie ganz einfach Ablenkung? Und ich? Was habe ich hier eigentlich verloren?, fragte sich Margareta. Mit ihrem frisch gewaschenen Haar, welches ihr locker auf die Schultern fiel, kam sie sich vor wie die Tatort-Kommissarin Lindholm, alias

      Maria Furtwängler, die gerade einer heißen Spur nachging. Und diese führte in das kleine, altertümliche Reiterstübchen eines Resser Reiterhofes.

      Die dauerwellgelockten Freundinnen ihrer Mutter hatten herausgefunden, dass Sabine Pöschl keine Angestellte des Reiterhofes war, sondern die Tochter des Hauses. Die Pferdenärrin hatte verzogenen Mädchen mit Liebe und Ausdauer Reitunterricht erteilt. Sie war ebenfalls eine leidenschaftliche Reiterin gewesen, die schon so manchen Pokal bei Turnieren eingeheimst hatte.

      Wahrscheinlich starrte Margareta die Gläser spülende Karin Pöschl zu sehr an, denn sie blickte misstrauisch zu ihr herüber.

      »Sie sind aber nicht von der Kripo, oder? Ich habe genug Fragen in den letzten Tagen beantwortet. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende!«

      »Nein, ich bin nicht von der Kripo«, antwortete Margareta nicht ohne Stolz. Man konnte sie also durchaus für eine Kommissarin halten.

      »Was wollen Sie dann hier? Ihre Tochter zum Reiten anmelden?«, fragte Sabines Mutter genervt.

      »Nein, ich habe keine Kinder. Ich war ganz einfach neugierig, als ich von dem Tod Ihrer Tochter – sie war doch Ihre Tochter, oder? – erfahren habe.« Besser ehrlich sein, dachte sich Margareta. Was hatte sie schon zu verlieren.

      »Na, Sie haben Mut! Kommen einfach hier hereinspaziert. Sind gar nicht von der Presse oder Kripo!« Karin Pöschl schüttelte den Kopf, drehte