Eisaugen. Margit Kruse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margit Kruse
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839236000
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Wetter den Heimweg von der Arbeit zu Fuß über den Friedhof antreten, mit der Chance, eine Frau kennenzulernen. Er seufzte, bevor er in den Bus der Linie 397 stieg und sich auf seinen Stammplatz hinten rechts am Fenster setzte.

      8.

      Angst einflößend und geheimnisvoll wirkte der Dachboden des Wohnturmes auf Margareta. Es roch muffig und ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, um sie Umrisse erkennen zu lassen. Es war der Spitzboden des Wohnturmes, mit einem winzigen runden Sprossenfenster, welches kaum Tageslicht hineinließ. Eine steile leiterartige Treppe hatte sie hier hinaufgeführt. Den Schlüssel zu diesem Verlies hatte sie reflexartig in ihre Hosentasche gesteckt, als sie ihn am Schlüsselbrett mit der Aufschrift ›Dachboden‹ in Karols Wohnung hängen sah. Doch was wollte sie hier?

      Sie blickte suchend nach oben, hielt Ausschau nach Nestern, die Schleiereulen oder Fledermäuse beherbergten. Deine Fantasie geht mit dir durch, mahnte sie sich. Du hast zu viele Harry-Potter-Filme gesehen. Sie bewunderte die Dachbalkenkonstruktion. Stabile Holzbalken. So richtig was, um sich daran aufzuhängen. Ihr fiel eine damalige Nachbarin ein. Die Dickliche, mit dem großen Busen, von gegenüber. Sie hatte sich auf einem ähnlichen Dachboden erhängt. Eine Woche zuvor hatten alle Kinder der Siedlung, einschließlich Margareta, dort oben ein Schützenfest gefeiert. Diese Frau hatte den Kartoffelsalat für alle gemacht. Der Name der Frau war Margareta entfallen. Eine Woche später fand man sie erhängt auf besagtem Dachboden. Angeblich hatten sie Wechseljahrbeschwerden gequält. Diese Begründung konnte Margareta nicht nachvollziehen.

      Es fehlte jegliche Isolierung, man hatte freien Blick auf die Dachpfannen, welche auf maroden Dachlatten ruhten.

      Sie hörte ein leises Fiepen und ihr Herz begann zu rasen. Ratten. Sie hatte panische Angst vor Ratten. Aber es war nur eine Maus, die in der Ecke zwischen den Kisten entlanghuschte. Ein alter vergammelter, ehemals weißer Küchenschrank stand auf der linken Seite. Daneben ein Korbsessel, dahinter etliche Kisten, zwei Nachtschränkchen eines alten Schleiflackschlafzimmers, halb volle Eimer mit irgendeiner Flüssigkeit. In einem davon schwamm eine tote Maus. Als Margareta den Inhalt einer der Kisten genauer inspizieren wollte, hörte sie Schritte und etwas über den Boden schleifen. War ihr jemand gefolgt? Es war fast 20 Uhr und die Sonne gerade im Begriff unterzugehen. Auch daran hatte Margareta gedacht und eine Taschenlampe mitgenommen.

      Sie hielt einen Augenblick inne. Die Geräusche verstummten, und sie öffnete gerade den vollgestaubten Karton, den sie vor sich hatte. Du hörst schon die Flöhe husten, beruhigte sie sich selbst. Wer soll sich denn nach hier oben verirren? In der Kiste befanden sich alte Kleidungsstücke, die mindestens 30 Jahre alt sein mussten. Herrenoberhemden mit riesigen Kragen und einer gestickten schwarzen Rose mitten auf der rechten Vorderseite. Sie konnte sich erinnern, dass ihr Vater damals solche Hemden trug. Blusen, mit riesigem Blumenmuster, sogar alte Büstenhalter entdeckte sie. Welcher Messie hortete denn so ein olles Zeug? In dem Moment, als sie sich den nächsten Karton vornehmen wollte, fiel ihr Blick auf ein Paar Gummistiefel, die in der Ecke standen. Sie waren staubfrei und sahen ziemlich neu aus. Daneben lag zusammengerollt ein grüner Regenmantel, auch neueren Baujahrs. Beides konnte sich noch nicht lange hier oben befinden. Margareta nahm die Stiefel in die Hand und drehte sie um. Aus dem groben Profil rieselte Sand. Größe 43 stand auf den Sohlen. Der Regenmantel war ebenfalls ein Herrenmodell. Wem gehörten die Sachen? Im ersten Augenblick hatte sie gedacht, es handele sich um Sabines Reitstiefel. Vielleicht frisch besohlt. Da sie tot war, wurden sie nicht mehr gebraucht. Es waren jedoch große stinknormale Gummistiefel, die wohl kaum einer so zarten Person gehört haben konnten. Sie stellte sie wieder zurück und faltete den sperrigen Mantel genau so, wie er vorher dagelegen hatte. Weg hier. Einfach nur weg. Margareta wurde es zu unheimlich. Sie richtete sich auf. Gerade als sie sich umdrehen wollte, um den Dachboden zu verlassen, spürte sie, wie zwei starke Arme nach ihr griffen und sie von hinten packten.

      »Was tust du hier?«, hörte sie Karols wütende Stimme. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken.

      »Au, du tust mir weh, lass mich los!«

      Er ließ tatsächlich von ihr ab. Sie drehte sich um und sah in braune, traurige Augen.

      »Na, Miss Marple, auf Spurensuche?«

      »Ich wollte nur mal … Ich weiß auch nicht …« Verschämt senkte sie den Blick.

      »Meinst du vielleicht, ich habe das Mädchen ermordet und bewahre hier Sachen von ihr auf?« Er seufzte und blickte aus dem kleinen Fenster hinunter auf die Straße. »Du schläfst also mit einem Mann, den du für einen Mörder hältst? Hast du denn gar keine Menschenkenntnis?«

      »Ich halte dich nicht für einen Mörder!«

      »Ach nein? Vielleicht habe ich noch mehr Menschen umgebracht und du findest eine Leiche. Schau mal hinten im Schrank nach!« Er gab ihr einen Stoß. Sie fiel auf den Boden.

      »Aber der Mantel und die Gummistiefel! Die gehören mit Sicherheit dir! Oder?«

      »Ja, das sind meine Sachen!«

      »Wozu brauchst du sie?« Margareta stand auf und wischte sich notdürftig den Staub von ihrer Jeans.

      »Manchmal gehe ich nachts spazieren. Meistens, wenn es regnet. Da sind am wenigsten Leute unterwegs.«

      »Du gehst nachts spazieren?« Margareta lief ein kalter Schauer über den Rücken. Karol wurde ihr immer unheimlicher. Geht nachts im Regen in einer Anglermontur auf Wanderschaft. Gleichzeitig fühlte sie sich stark von ihm angezogen. Bin ich vielleicht abartig veranlagt?

      »Ja meinst du vielleicht, es ist schön, immer eingesperrt zu sein?«, zischte er sie an.

      »Wo gehst du denn hin? Mitten in der Nacht?«

      »Meistens über den Friedhof. Das ist am nächsten. Dort ist Ruhe, man ist allein!«

      »Mitten in der Nacht auf den Friedhof?« Sie bekam eine Gänsehaut. Gleichzeitig tat er ihr leid. Wie einsam und verzweifelt musste ein Mensch sein, der nachts auf den Friedhof ging?

      Sie standen sich gegenüber. Auf dem muffigen Dachboden des Turmes. Sie sahen sich an. Er lächelte und strich ihr zart über die Wange. Seine Hormone ließen den Ärger schnell verfliegen. Der Dachbodenschlüssel befand sich längst wieder in seiner Hosentasche, was Margareta bedauerte. Dann küsste er ihr Gesicht, ihre Stirn, ihre Wangen und ihre Lippen.

      »Warum machst du aus allem so ein Geheimnis?« Sie küsste ihn zärtlich auf den Mund. Obwohl sich ihre Angst vor diesem Mann nicht gänzlich aufgelöst hatte, sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm.

      Ihre Fingerspitze zeichnete die Umrisse seines Adamsapfels nach. Seine Halsschlagader trat hervor. Er seufzte vor Erregung. Mit zitternden Fingern umkreiste er ihre Brüste.

      »Zieh dich aus«, flüsterte er mit rauer Stimme.

      »Hier auf dem ollen Dachboden?«

      »Ja, jetzt und hier!« Er holte den Regenmantel aus der Ecke, breitete ihn aus, legte ihn auf den Boden und kniete sich darauf. »Los, komm schon!« Er zog sie zu sich herunter.

      Nur durch den kalten Regenmantel vom harten Dielenboden getrennt, kamen sie schnell zur Sache. Wie Ertrinkende klammerten sie sich aneinander. Ihre Hände krallten sich an seinem Hintern fest. Endlich. Leidenschaftlich biss Karol sie in den Hals. Sie spürte seine zärtlichen Hände überall gleichzeitig. Fast verrückt machte ihn ihr anfeuerndes Hecheln.

      Wie weit ist es mit mir gekommen, dachte Margareta, als sie behäbig versuchte aufzustehen und ihre Kleidungsstücke zusammensuchte. Karol lachte, als er sich mit knackenden Knochen vom Boden erhob.

      »Wir sind eben keine 20 mehr!«

      »Keiner hat uns gezwungen, es hier an diesem unheimlichen, ungemütlichen Ort zu treiben!« Margareta lächelte süffisant.

      »Wie sich das anhört: es zu treiben! Was ist mit Liebe?«

      Margareta hielt sich die Ohren zu. »Bitte nicht schon wieder dieses Thema. Du bist echt ein toller Liebhaber. Doch mehr nicht!«

      In der Nacht wurde sie vom Regen, der an das Fenster prasselte,