Eisaugen. Margit Kruse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margit Kruse
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839236000
Скачать книгу
Sohn prüfte so sorgfältig die Qualität, bevor er seiner Mutti etwas kaufte?

      Und ausgerechnet Schlüpfer? Welcher Mann grüßte in einer solchen Situation freundlich und wühlte weiter mit Begeisterung in den verschiedenen Unterhosen? Ein Geruch von Franzbranntwein hatte sie gestreift, als

      sie sich an ihm vorbeidrängen musste. Igitt!

      Aber immerhin war er Inspektor. Inspektor im Referat Bauordnung und Bauverwaltung im Buer’schen Rathaus. Er teilte sein heimeliges Büro mit Margaretas Bruder Gisbert, der ebenfalls dort arbeitete beziehungsweise sich da aufhielt. Gisbert erzählte oft witzige Anekdoten aus Walter Hartmanns Junggesellenleben. Beide waren sie für ordnungsbehördliche Verfahren zuständig. Akribisch, wie nur Beamte sein konnten, freuten sie sich über jeden neuen Fall, der wieder etwas frischen Wind in die miefige Amtsstube brachte. Kam ihnen eine Sache zu Augen oder Ohren, die gegen ihre gestrengen Satzungen verstieß, traten sie in Aktion. Und wenn es sich auch nur um einen fünf Zentimeter zu hohen Zaun handelte, rieben sich die beiden die Hände. Endlich kam Action in ihr Beamtenleben. Die Fliegenklatsche und die Kalenderblätter waren vergessen. Jetzt durften die zittrigen Hände wieder über die Tastatur des PCs fliegen. Behördliche Mahnungen mit Anordnungen von Zwangsgeldern wurden flugs geschrieben und versandt.

      Mein Bruder ist nicht besser als dieser Walter, dachte Margareta. Beamte sind alle gleich, irgendwie klebt etwas Spießiges an ihnen, fand sie. Obwohl sie sich schon auf den Ostersonntag bei ihrem Bruder, der mit seiner Familie in einem Zechenhäuschen in der Hasseler Körnerstraße lebte, freute. Da hatte sie anschließend mit ihrer Freundin Corinna wieder Gesprächsstoff für mindestens zwei Stunden. Bei Sekt oder Wein würden sie sich über die Eigenarten der beiden Beamten vor Lachen abrollen.

      Sie hatte den Fundort der Leiche erreicht. Nichts erinnerte mehr an die grauenvolle Schilderung ihrer Mutter. Nirgendwo die kleinste Spur eines Verbrechens. Alles war wieder hergerichtet, als wäre nie etwas geschehen.

      Nachdem sie sich einige Minuten auf der Steinbank im Garten der Erinnerung niedergelassen und auf den Fundort gestarrt hatte, entschloss sie sich, nach Hause zu gehen.

      Das Blinken des Anrufbeantworters zeigte ihr eine neue Nachricht an. Noch während sie sich von Jacke und Schuhen befreite, drückte sie die Abspieltaste. Laut vernahm sie die Bariton-Stimme ihres Ex-Geliebten. »Hallo, Gretchen, ich bin’s, Friedbert. Ruf mich doch mal an!«

      Ehe seine Stimme restlos verklungen war, drückte sie hastig die Löschtaste, so, als könne sie mit der hinterlassenen Nachricht gleich den ganzen Bertl auslöschen. Schon zum dritten Male hatte er ihr in dieser Woche aufs Band gesprochen. Sie spürte nicht die geringste Lust, ihn anzurufen. Alles war gesagt, sie hatte kein Verlangen, die abgestandene Suppe zum wiederholten Male aufzuwärmen. Als sie im Schlafzimmer das Rollo herunterließ und dabei zu dem sprossenverglasten Fenster des Nebenhauses sah, saß Karol bei schwachem Licht einer winzigen Tischleuchte noch immer über seine Schuhe gebeugt. Hat wohl Großaufträge, volles Programm! Da wird die Kasse klingeln. Alle wollen zu Ostern ihre Frühjahrsschuhe neu besohlt wissen. Wenn er doch einen ähnlichen Eifer bei der Suche nach seiner Mutter an den Tag legen würde. Wann wollte er sich endlich den Behörden stellen? Wie lange wollte er so weitermachen? Nicht mein Problem. Als er in der letzten Nacht an ihrer Tür klingelte, hatte sie nicht reagiert.

      Sie schaltete den Fernseher ein, um sich durch die Tagesschau bestätigen zu lassen, dass es den Mordfall wirklich gab und ihre Mutter ihr kein Märchen erzählt hatte. Man zeigte Bilder vom Friedhof und vom Garten der Erinnerung. Die neu installierte Skulptur wurde zum Medienstar. Von der Toten und von Waltraud konnte sie in dem Gewusel der Polizei- und Kripobeamten nichts entdecken. Bei der Toten handelte es sich um die 25-jährige Sabine Pöschl, eine Angestellte eines nahe gelegenen Reiterhofes, die seit zwei Tagen vermisst wurde. Der Name sagte Margareta nichts. Vielleicht würde morgen in der Zeitung mehr über sie stehen. Außerdem hatte sie ja einen eigenen, viel genaueren Berichterstatter, nämlich ihre Mutter.

      4.

      Sie saß an dem karg gedeckten Tisch eines einfach eingerichteten Zimmers und blickte aus dem Fenster. Komisch, dachte sie, von hier aus habe ich die Schievenstraße noch nie betrachtet. Ihr gegenüber, keinen Meter entfernt, starrte sie in zwei erwartungsvolle, hellblaue Augen. Es war Karfreitag, 13 Uhr, und sie bekam gerade eine Portion Schlemmerfilet à la Bordelaise unter die Nase gestellt. Daneben lagen zwei Kochbeutelknödel und eine Portion Erbsen und Möhren aus der Dose. Seine Hände zitterten. Er hatte Angst. Angst, dass es ihr vielleicht nicht schmecken würde, sie enttäuscht sei, vom Essen, von seiner Wohnung und von ihm.

      Wick Blau, die Farbe seiner Augen erinnerte sie an Wick-Blau-Hustenbonbons. Während sie auf den ramponierten Teller mit der dampfenden Mahlzeit starrte, fragte sich Margareta, ob sie eigentlich verrückt war. Hatte ich den totalen Blackout, als ich die Essenseinladung annahm? Was habe ich mir da für eine Suppe eingebrockt? Hat meine Gutmütigkeit, mein Nicht-Nein-sagen-Können mir dieses Mal einen besonders üblen Streich gespielt?

      Mitleid! Mitleid war auf jeden Fall im Spiel, als sie vorgestern Abend während einer dieser Heißhungerattacken, welche sie ständig kurz vor ihrer Periode quälten, zur nächstbesten Bude rannte, um sich etwas Süßes zu kaufen, und auf ihn traf. Er stand lässig am Tresen gelehnt, vor Marshmallowmäusen, Lakritzschnecken und Gummiteufeln. In der einen Hand ein Mettbrötchen, welches ekeliger nicht aussehen konnte, in der anderen eine Flasche Bier. Seinen seriösen Plüschmantel hatte er gegen eine braune Strickjacke eingetauscht. Er lachte sie mit geschlossenem Mund freundlich an. Seine Augen strahlten. Als der Chef der Bude nach hinten ging, um ihr Eis aus der Truhe zu holen, brachte er tatsächlich den Mut auf, sie anzusprechen.

      »Ist traurig mit dieser jungen Frau, näh?« Er ging davon aus, dass jeder von der Toten vom Friedhof wissen müsse.

      »Ja, schlimm«, antwortete Margareta. Sie war ge­schockt, dass er sie ansprach. Das waren in den 35 Jahren, in denen sie ihn kannte, die ersten Worte, die er an sie richtete. Und es sollte noch schlimmer kommen.

      »Darf ich Sie zum Essen einladen, Karfreitag? Ich wohne hier oben!« Er deutete mit der Bierflasche zu den Fenstern seiner Wohnung hinauf.

      »Ich weiß«, sagte sie nur und suchte in ihrem Ge­hirn schnell und gründlich nach einer plausibel klingenden, nicht verletzend wirkenden Ausrede. Doch er starrte sie voller Angst aus seinen kalt blickenden Eisaugen an. Ich habe noch nie so winzige Pupillen gesehen, dachte sie einen letzten klaren Gedanken, bevor sie aussprach, was sie selbst kaum glauben konnte.

      »Ja, wieso nicht!«

      »12 Uhr?«, fragte er sie hektisch mit belegter Stimme. Seine Hände zitterten so stark, dass die Zwiebelstückchen seines Mettbrötchens zu Boden fielen.

      Mitleid ließ sie erneut »Ja« sagen.

      Zu Hause angekommen zermarterte sie sich den ganzen Abend das Hirn, wieso sie nur diese unmögliche Essenseinladung annehmen konnte. War sie denn nach der Trennung von Bertl total durchgedreht? Zuerst ließ sie sich mit einem gar nicht vorhandenen polnischen Schuster ein, und nun kroch sie in die Wohnung eines Spähers, der nicht gerade prickelnd aussah. Sie nahm 20 Baldriantropfen und ging ins Bett. Ihre Heißhungerattacke war schlagartig verflogen.

      Nun saß sie hier, nahm zögernd die alte Gabel mit den enorm langen Zinken in die Hand und begann zu essen. Na ja, bei dem Gericht konnte er nicht viel falsch machen. Schlemmerfilet aus dem Gefrierfach war Margaretas Verzweiflungsgericht A, wenn ihr nichts Besseres einfiel. Verzweiflungsgericht B war Miracoli, allerdings aufgepeppt mit 100 Gramm Gehacktem. Für alle Fälle gab es noch ein drittes Verzweiflungsgericht. Nämlich C: Zwiebel-Sahne-Hähnchen. Dieses Päckchengericht fand sie einfach praktisch. Jedoch würde sie nie jemandem, den sie zum Essen einlud, eines ihrer A-, B-, oder C-Gerichte vorsetzen.

      Eisauge war allerdings stolz, überhaupt irgendetwas hinbekommen zu haben. Und der Fisch war sogar gut durch, stellte sie verblüfft fest. Also musste er lesen können und die Garzeit genau eingestellt haben. Dazu reichte er einen 98er-Chardonnay und sie wunderte sich, wie er an den Wein gekommen war. Sie tranken ihn zwar aus Wassergläsern der einfachsten Sorte, aber immerhin. Auch das Besteck hatte er richtig hingelegt, es lag sogar ein kleiner Löffel für den Nachtisch bereit. Apfelmus aus dem Glas.