Soziale Aspekte
Wer Krebs hat, löst, wenn er davon spricht, im Zuhörer gleich eine Assoziationskette von Begriffen aus: Tumor, Chemotherapie, Operation … Aber ME/CFS? Gesunde können die Beschwerden, mit denen ME/CFS-Patienten leben, weder in der Dauer noch in der Ausprägung nachvollziehen. ME/CFS ist „unsichtbar“: Betroffenen ist ihre Erkrankung oft nicht anzusehen. ME/CFS lässt sich kaum mit drei Worten erklären. So ist gegenseitiges Unverständnis fast zwangsläufig: einerseits will der Betroffene nicht in eine ausschweifende Rechtfertigungssituation geraten - andererseits ist der Gesprächspartner überfordert.
ME/CFS-Patienten haben nicht nur mit medizinischen Fragestellungen zu tun, was bei einer so schweren Krankheit schon genug wäre, sie kämpfen an mehreren „Fronten“, z.B.:
■ Sie müssen mit der Krankheit selbst zurechtkommen, die so diffus und kompliziert ist, dass sie selbst kaum verstehen können, was ihnen geschieht.
■ Patienten können nicht mit ihren Angehörigen zu einer Beratungsstelle gehen. Sie müssen ihr Umfeld selbst aufklären - werden aber selbst auch nicht aufgeklärt.
■ Patienten erleben häufig stigmatisierende Situationen.
■ Die finanzielle Sicherheit geht verloren: mit den geringen Kraftreserven müssen noch Versorgungsansprüche erfochten werden.
Stabile soziale Kontakte zeichnen sich durch Verlässlichkeit aus. Wenn Menschen sich verabreden, wird als Ausnahme hingenommen, dass man kurzfristig absagt. ME/CFS-Patienten können aber kaum voraussagen, ob sie zu jener Zeit an genau diesem Tag über die nötige Energie verfügen. Verabredungen erhöhen den Stresspegel enorm: Muss man sich zum Geburtstag der Freunde schleppen oder hat man vielleicht Glück? Wird sich an diesem Tag der Kopf wie Watte anfühlen, so dass man nur mühsam dem Durcheinander der Stimmen folgen kann - oder wird es ein guter Tag sein, scheinbar wie früher? Dann riskiert man allerdings, dass Menschen, die dem Betroffenen nicht so nahestehen sich fragen: was erzählt er/sie denn, er/sie sei krank???
Die Folgen der Energie-Achterbahn sind sozial extrem unverträglich. Nichts ist planbar.
Das kann zu Beziehungsbrüchen führen, bis hin zur sozialen Isolation. Wer von der Familie oder Freunden aufgefangen wird, hat Glück. Wie viele Betroffene völlig auf sich alleine gestellt sind, ist nicht bekannt.
Das Gleichgewicht von Anspannung und Entspannung, von Wachen und Schlafen ist nachhaltig gestört. Die erschöpften Patienten sehnen sich nach Erholung - aber kaum legen sie sich todmüde ins Bett, will der Schlaf nicht kommen. Im Gegenteil, eine innere Unruhe macht sich breit. Die Nächte sind nicht erholsam, am Tage fühlt man sich wie gerädert und weit entfernt von geistiger Frische: Was stand in der Zeitung, die ich eben gelesen habe? Im Gespräch mit der Nachbarin will einem der Name ihres Sohnes partout nicht einfallen. Im Büro gelingt es kaum, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Großereignisse wie Familienfeiern oder der eigene runde Geburtstag werden zu Stress-Ereignissen, Verpflichtungen wie Elternabende zu Gipfelbesteigungen. ME/CFS-Patienten verschwinden stillschweigend aus dem gesellschaftlichen Leben. Viele Betroffene haben extrem wenig Kraft: Sie reicht nicht zum konzentrierten Lesen, nicht für Besuche, bei Schwerkranken nicht für den Gang zur Toilette, geschweige denn zum Verlassen des Hauses. ME/CFS-Betroffene erleben verfrüht, was es bedeutet abzubauen. Was gegen das Ende des Lebens hin als physiologischer Prozess des Alterns eintritt wird vorverlegt: Ein Nachlassen der Vitalität, der Kraft, der Ausdauer, der Leistungs- und Reaktionsfähigkeit.
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