Es gibt keine belastbare Statistik, es wird jedoch geschätzt, dass ein Viertel aller ME/CFS-Patienten das Haus nicht mehr verlassen können, viele davon sind bettlägerig. Mehr als die Hälfte aller Betroffenen ist vermutlich arbeitsunfähig. Forschung ist nötig, um hier verlässliche Werte zu erhalten.
Wer ist betroffen?
Die Krankheit tritt in allen ethnischen Gruppen und in allen sozioökonomischen Schichten auf. Frauen sind zwei- bis viermal (je nach Quelle) so häufig betroffen wie Männer. Die Erkrankungs-Wahrscheinlichkeit steigt im mittleren Lebensalter an. Individuelle oder familiäre/genetische Immundefekte oder Autoimmun-Erkrankungen erhöhen das Risiko, an ME/CFS zu erkranken.
Besonders bitter ist, dass auch Kinder und Jugendliche erkranken. Diese Gruppe kann nicht oder kaum auf die Erfahrung einer normalen Leistungsfähigkeit zurückgreifen. Oft wird die Krankheit nicht erkannt und die Kinder leiden doppelt. ▸ Siehe Kapitel 3.2
Einige Prominente haben ihre ME/CFS-Diagnose öffentlich gemacht, dazu gehört z.B. Olaf Bodden, ehemaliger Bundesliga-Star. Der Fußballer stand vor der Berufung in die Nationalmannschaft. 1996 erkrankte er am Pfeifferschen Drüsenfieber und musste zunächst mehrere Monate pausieren. Danach spielte er wieder, hatte einen Rückfall und im Dezember 1997 musste er schließlich seine aktive Karriere beenden und erhielt die Diagnose ME/CFS. Seit 2014 sitzt er im Rollstuhl. Heute kann er seine Wohnung kaum mehr verlassen, weil ihm die Kraft fehlt. Da die Diagnose ME/CFS karriereschädigend ist, vermeiden (Spitzen-) Sportler meist tunlichst, sie öffentlich zu machen. Gerade sie sind jedoch oft betroffen, so der Experte Doz. Dr. sc. med. Bodo Kuklinski in seinen Büchern. ▸ Siehe Anhang 3
Keith Jarrett, der amerikanische Jazz-Pianist, erhielt Ende der 1990er Jahre die Diagnose ME/CFS. Eineinhalb Jahre konnte er gar nicht mehr Klavier spielen, danach ging es sehr langsam, mit Rückschlägen, wieder aufwärts. Blake Edwards war ein US-amerikanischer Filmregisseur und -produzent, Schauspieler, Drehbuchautor und Oscar-Preisträger. Die Pink-Panther-Reihe und den Klassiker Frühstück bei Tiffany mit Audrey Hepburn und vieles mehr haben wir ihm zu verdanken. Er litt 15 Jahre bis zu seinem Tod an ME/CFS und an Depressionen. In dem 2000 erschienen Dokumentarfilm I Remember Me von Kim A. Snyder, die auch selbst erkrankt war, kam er als Betroffener zu Wort.
Was unterscheidet ME/CFS vom Burnout-Syndrom?
Im Unterschied zum Burnout-Syndrom handelt es sich bei ME/CFS nicht um einen Erschöpfungszustand, der sich durch Überlastung erklären lässt. Auch wenn die Symptome auf den ersten Blick denen eines schweren Burnout-Syndroms sehr ähnlich sind, handelt es sich doch um verschiedene Krankheiten.
Ist ME/CFS eine Art von Depression?
Nein, auch hier gibt es ähnliche Symptome und Überschneidungen, aber es handelt sich um unterschiedliche Krankheitsbilder. Depression ist kein Krankheitsmerkmal des ME/CFS. ME/CFS-Patienten haben, anders als depressive Patienten, in der Regel das starke Bedürfnis, aktiv zu sein, sind aber körperlich nicht in der Lage dazu. Sie zeigen Interesse und sind motiviert.
Dr. Frank H. Duffy ist Neurologe in Boston, Massachusetts. Er veröffentlichte mit Kollegen 2011 eine Studie, an der 70 diagnostizierte CFS-Patienten (Anmerkung: In dieser Studie wird der Begriff „CFS“ verwendet),
24 Patienten mit Depressionen und 148 Patienten mit allgemeinen Fatigue-Symptomen teilnahmen. Nach wissenschaftlicher, spezifischer Auswertung der EEGs aller drei Gruppen wurden 10 Faktoren gefunden, mit denen man die CFS-Patienten klar von Patienten mit Major Depression und von gesunden Probanden unterscheiden konnte. Die Studie konnte zeigen, dass die Physiologie des Gehirns von CFS-Patienten sich sowohl von gesunden wie auch von depressiven Patienten unterscheidet. 1.4/1, Duffy
Unbestritten kann ME/CFS, wie jede andere Lebenskrise oder schwere Erkrankung auch, sekundär, also als Folge der erschwerten Lebensumstände und der verminderten Lebensqualität zu psychischen Belastungen, insbesondere zu Depressionen führen. Eine reaktive Angststörung oder Depression kann auftreten, wenn die Krankheit die Arbeitsfähigkeit und damit die Existenz bedroht und/oder familiäre und weitere soziale Beziehungen belastet. Und unbestritten wird es eine Anzahl von Patienten geben, die primär an einer Depression erkrankt waren und zusätzlich, als weitere Erkrankung, ein ME/CFS entwickelten.
Wie verbreitet ist ME/CFS?
1999 wurde eine Studie veröffentlicht, die ergab, dass 422 CFS Fälle pro 100.000 Personen, also etwa 0,4 % der US-amerikanischen Bevölkerung, an CFS erkrankt waren, davon etwa 70 % Frauen. 1.4/2, Jason Überträgt man diese Rate auf Deutschland, ergibt sich eine Zahl von 320 000 Betroffenen. Diese Zahl wird seit Erscheinen der Studie vor mittlerweile 19 Jahren (Stand 2018) als Referenzwert von Jahr zu Jahr weitergegeben. Sie ist in vielen Dokumentationen zu finden. Spätere Studien ergaben signifikant differierende Prävalenzschätzungen von 0,3 % bis knapp über 3 %. In diesen Studien wurden für dieses an sich schon sehr heterogene Krankheitsbild unterschiedliche Klassifizierungen mit uneinheitlichen Fallkriterien zugrunde gelegt. Es ist somit nicht sichergestellt, dass alle untersuchten Patienten tatsächlich ME/CFS-Patienten im Sinne der aktuellen Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 waren.
Unter der Überschrift: Bundesregierung: Forschung zu Chronischem Erschöpfungssyndrom muss weiterentwickelt werden gab die Bundesregierung auf der offiziellen Seite des Bundestags mit Datum 06.03.2013 bekannt, dass im Jahr 2011 bei 790 Krankenhauspatienten in Deutschland die Diagnose „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ gestellt wurde. Dies lasse sich aus entsprechenden Diagnosedaten der Krankenhäuser entnehmen, schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ zum Thema CFS. 1.4/3, Bundestag
Bei diesen 790 CFS-Neu-Diagnosen für 2011 sind aufgrund fehlender Statistiken weder weitere Facharztpraxen berücksichtigt, die 2011 diese Diagnose qualifiziert neu erstellt haben, noch die ME/CFS-Patienten, die unter anderen Diagnosen fehlgelistet wurden, noch die ME/CFS-Patienten, die überhaupt nicht diagnostiziert wurden. Andererseits ist auch bei den Krankenhausdiagnosen nicht sichergestellt, dass die untersuchten Patienten tatsächlich ME/CFS-Patienten im Sinne der heute gültigen Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 waren.
Seit Januar 2008 ist das Robert Koch-Institut (RKI) bundesweit dafür zuständig, ein Gesundheits-Monitoring durchzuführen, das den aktuellen Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten sowie relevante gesundheitliche Einflussfaktoren unter die Lupe nimmt.
Die Daten werden wie bei einem Baukastensystem aus verschiedenen Komponenten (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey/KiGGS; Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland /DEGS und Gesundheit in Deutschland aktuell/GEDA) erstellt und durch weitere Datenerhebungs-Projekte wie z.B. Krebs-/Diabetes-Registerdaten, Regionale Gesundheitsregister, Versorgungsdaten (z.B. Versichertendaten), Amtliche Statistik (Mortalitäts-, Renten-, Pflegestatistik) und Kohortenstudien ergänzt. Für HIV werden zusätzlich Meldebögen des RKI angeboten. Die epidemiologischen Daten zu Krebs, Diabetes, HIV und zu weiteren Erkrankungen werden jährlich auf der Basis dieser ausgebauten medizinischen Daten-Infrastruktur erstellt. Diese bieten eine umfassende Daten- und Informationsgrundlage für die Berichterstattung, die Gesundheitspolitik und für die Gesundheitswissenschaften.
Für ME/CFS gibt es eine solche medizinische Datenerhebung nicht einmal ansatzweise. ME/CFS fällt durch die Maschen all dieser Datenerhebungs-Projekte.
Laut der veralteten, aber auch laut der aktualisierten Leitlinie Müdigkeit sollte die Diagnose ME/CFS möglichst keine Erwähnung finden. ▸ Siehe Quellverweis 2.2/ 15 Häufig wurde und wird ME/CFS als psychische Erkrankung fehldiagnostiziert oder als chronische Erkrankung der Atemwege, des Kreislaufsystems, des Muskel-Skelettsystems oder z.B. als Fibromyalgie.
In dem mehrfach erwähnten Bericht des US-amerikanischen Institute of Medicine/IOM von 2015 ▸ Siehe