Diese hohe Dunkelziffer ist erstaunlich. Sie wird jedoch durch eine US-amerikanische Studie annähernd bestätigt. In dieser Untersuchung wurden 100 000 Krankenschwestern über 20 Jahre (zwischen 1989 und 2009) beobachtet. 240 Krankenschwestern entwickelten (nach den CDC 1994/ Fukuda-Kriterien) im Laufe dieser Zeit eine ME/CFS-Erkrankung. Diese Diagnose erhielten jedoch nur 15 % der Betroffenen. Also wurden auch hier 85 % der Betroffenen nicht als ME/CFS-Patientinnen diagnostiziert. 1.4/5, tandfonline
Ist ME/CFS übertragbar?
Das Kanadische Gesundheitsministerium, die Neuseeländischen Blutbanken und das Australische Rote Kreuz veranlassten 2010 vorübergehend ein Blutspendenverbot für ME/CFS-Patienten. Im Juni 2010 empfahl auch die amerikanische American Association of Blood Banks/AABB von ME/CFS-Patienten keine Blutspenden anzunehmen. Grund war eine 2009 im Wissenschaftsmagazin Science erschienene Studie, die das Whittemore Petersen Institut (WPI) in Kooperation mit dem National Cancer Institute und der Cleveland Clinic (USA) erstellt hatte. Die Studie wies auf mögliche Zusammenhänge zwischen dem Retrovirus XMRV und ME/CFS hin. Doch dieser Verdacht konnte in Folgeuntersuchungen nicht bestätigt werden. Die Studie wurde mittlerweile zurückgezogen. Derzeit gibt es, aufgrund fehlender Studien, weder einen zwingenden Beweis für eine Übertragung der Krankheit ME/CFS durch Bluttransfusionen oder Organtransplantationen noch für das Gegenteil. Es gab wiederholt ME/CFS-Epidemien in Krankenhäusern oder anderen begrenzten Orten (z.B. Mitte der 1980er Jahre am Lake Tahoe/ USA). Diese Zusammenhänge sind ungeklärt.
1.5 KLASSIFIZIERUNG NACH PATHOLOGISCHEN VERÄNDERUNGEN
Den individuell sehr unterschiedlichen Beschwerden liegen zahlreiche pathologische Veränderungen zugrunde. Die Liste möglicher Fehlsteuerungen bei ME/CFS ist sehr umfangreich. In den Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 werden sie folgendermaßen zusammengefasst:
„Die Myalgische Enzephalomyelitis ist eine erworbene neurologische Erkrankung mit vielschichtigen, umfassenden Fehlfunktionen. Die herausragenden Merkmale sind eine pathologische Dysregulation des Nerven- und des Immunsystems sowie der endokrinen Systeme, verbunden mit gestörtem zellulären Energiestoffwechsel und gestörtem Ionentransport.“ 1.5/1, ME-ICC 2011
Der renommierte Harvard-Professor und ME/CFS-Experte Anthony Komaroff beschreibt folgende Fehlsteuerungen:
„Es gibt objektive biologische Vorgänge, die bei Menschen mit CFS anomal verlaufen… Sie betreffen mit Sicherheit das Gehirn, das zentrale Nervensystem, das autonome Nervensystem, das im Gehirn entspringt und sich dann über die Nerven im gesamten Körper verbreitet, um die vitalen Funktionen des Körpers zu steuern, die Körpertemperatur, die Pulsrate, die Atemfrequenz usw., das Immunsystem, es betrifft den Energiestoffwechsel und die Mitochondrien, welches die kleinen Organellen in jeder Zelle sind, die die Energie für sie produzieren. Es gibt genetische Studien, die die genetischen Unterschiede belegen, […] und dann gibt es schließlich den Zusammenhang zwischen Infektionserregern und dieser Krankheit.“ 1.5/2, Komaroff
Das Merkmal aller multisystemischen Erkrankungen und auch des ME/CFS ist der Verlust der Homöostase. Jeder Reiz, sei er innerkörperlich (z.B. eine Entzündung) oder von außen (Hektik, Mobbing, Umweltgifte, Viren oder Bakterien etc.) wird über viele Kanäle wahrgenommen und verlangt nach einer Reaktion. Ist der Duft angenehm oder weist er darauf hin, dass das Essen nicht mehr in Ordnung ist? Sind die eingedrungenen Bakterien nützlich oder stellen sie eine Bedrohung dar? Der lebende Organismus wird ständig gefordert und ist permanent damit beschäftigt, auf allen Ebenen gesund, d.h. im Gleichgewicht zu bleiben. Dieser dynamisch-labile Zustand der permanenten Anpassung wird Homöostase genannt.
In Kapitel 4 werden unterschiedliche Fehlfunktionen erläutert und der jeweilige aktuelle Stand der Forschung dazu vorgestellt. Ausführliche Darstellungen der Fehlsteuerungen finden Sie z.B. auch in der Ärztebroschüre des Fatigatio e.V. ▸ Siehe Anhang 1 und in weiteren Schriften oder Internetseiten, die auf den Serviceseiten aufgelistet sind.
Ursache, Auslöser oder Verstärker?
Wer an einer Bienengiftallergie leidet hat keinerlei Beschwerden, solange ihm keine Biene zu nahe kommt. Ein Stich hingegen kann lebensbedrohliche Auswirkungen haben. Ursache (Bienengiftallergie) und Auslöser (Stich einer Biene) sind klar erkennbar und spezifisch. Ganz anders verhält es sich bei ME/CFS. Die Ursache(n) des ME/CFS ist/sind noch nicht geklärt. Aber ME/CFS-Patienten sind so verletzlich, dass zahllose Auslöser (Trigger) zu Rückfällen oder Verschlechterungen führen können oder als Verstärker das Krankheitsgeschehen negativ beeinflussen. Ursache, Auslöser und Verstärker interagieren und können kaum klar zugeordnet werden. Zu den Einflussfaktoren gehören potentiell alle Faktoren, die uns körperlich, seelisch oder mental stressen: z.B. virale, bakterielle und parasitäre Infektionen, psychische Belastungen/Traumatisierungen, toxische Belastung mit diversen Umweltgiften und Chemikalien (Insektizide, Pestizide, Lösemittel, toxische Schwermetalle) und viele andere.
MÖGLICHE KLASSIFIZIERUNGEN
Es wird immer deutlicher, dass das Krankheitsbild ME/CFS in Untergruppen gegliedert werden wird. Schon 1994 wurde in den Fukuda-Kriterien angeraten, über die Verwendung von Biomarkern Untergruppen zu identifizieren. Wir sind Zeitzeugen der Klassifizierung dieser Erkrankung. Je weiter die Forschung fortschreitet, desto deutlicher werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb von Patientengruppen - und desto präziser werden die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Im Moment ist unklar, wie ME/CFS, bzw. die Untergruppen dieser Erkrankung in Zukunft klassifiziert werden. Es gibt verschiedene Optionen:
■ Als „Sammeldiagnose“ mit verschiedenen Untergruppen, die sich durch Biomarker unterscheiden;
■ Möglich ist auch, dass die verschiedenen Untergruppen jeweils als eigenständige Erkrankungen anerkannt werden.
■ Einiges spricht auch für ein Kontinuum mit verschiedenen Schwerpunkten, aber fließendem Übergang zwischen den Multisystem-Erkrankungen ME/CFS, MCS (Multiple-Chemikalien Sensitivität) und dem Fibromyalgie-Syndrom FMS. Liegt hier eine gemeinsame Grund-Erkrankung vor - mit unterschiedlichen Symptom-Schwerpunkten?
■ Vielleicht wird man in absehbarer Zeit von „Multisystemischen Spektrum-Erkrankungen“ sprechen wie das heute schon bei „Autismus-Spektrum-Störungen“ der Fall ist. Auch bei Autismus gibt es unterschiedliche Symptome, Ausprägungen und Schweregrade.
■ Eine weitere Möglichkeit ist, dass Klassifizierungen nach biochemischen Signaturen und nicht nach Diagnosen unterschieden werden. So können z.B. genetisch bedingte Störungen der Entgiftung bei unterschiedlichen Krankheitsbildern auftreten - bei ME/CFS, aber auch bei ganz anderen Erkrankungen.
1.6 LEBEN MIT ME/CFS
„Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder erfüllt sein.“
Hans Georg Gadamer
Der Verlust der Gesundheit geht mit weiteren Verlusten einher. ME/CFS-Patienten verschwinden aus der Gesellschaft. Die Lost-Voices Stiftung und die Aktion „Millions missing“ drücken dieses Verschwinden in Ihrer Namensgebung aus.
Die oft massiven Beschwerden sind seelisch und körperlich extrem belastend und führen zu einer existentiellen Beeinträchtigung der Lebensqualität. ME/CFS kann für Schwerstbetroffene lebensbedrohlich sein. Die Patienten werden nicht nur durch die Krankheit selbst belastet, sondern auch durch die sozialen, psychischen und materiellen Folgen. Eben stand man noch im Leben, nun braucht man Hilfe und wird sogar zum Bittsteller. Die finanzielle Grundsicherung ist nicht gewährleistet. Das Leben ist von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Die fehlende Belastbarkeit ist nicht verstehbar und nicht vermittelbar, ohnmächtig steht der Patient dem gegenüber, was ihm geschieht. Die Unversehrtheit ist geraubt. Täglich entsteht Frust über die unerklärlichen Kraftlöcher. Für Betroffene und deren Angehörige ist es eine Mammutaufgabe, mit dieser Situation zurechtzukommen.
Der Energielevel des Körpers gibt vor, ob individuelles Potential