»Ciao, Pippilotta!«
»Wenn du mich noch ein Mal Pippilotta nennst, dann …« Aber Paula hatte bereits aufgelegt.
Sie zappte durch die Kanäle, fand nichts Gescheites, schlüpfte in ihren Bademantel und marschierte trotz der strikten Auflage, heute noch im Bett zu bleiben, zu Paul in die orthopädische Abteilung hinüber.
Ihr Bruder spielte mit Till und Hendrik, seinen beiden Zimmernachbarn, Poker und war offensichtlich nicht gerade erpicht darauf, seine Zwillingsschwester in die Runde aufzunehmen.
Erst als sie schon wieder im Begriff war zu gehen, wandte er sich ihr zu. »Du-u-u«, meinte er gedehnt, »ich muss dich was fragen.«
»Na, mach doch.« Paula stand in der Tür und zuckte die Achseln.
»Ist … was Persönliches.«
Till und Hendrik spitzten augenblicklich die Ohren und Paul schaute beschwörend auf den Klapprollstuhl in der Zimmerecke.
Paula blies die Backen auf. Das musste ja was enorm Wichtiges sein.
Sie faltete den Rollstuhl auseinander und half ihrem Bruder, sich hineinzusetzen. In der Cafeteria karrte sie Paul an einen der Tische, holte zwei Flaschen Bionade und setzte sich zu ihm. »Und?«, fragte sie. »Was ist los?«
»Na jaaa, ich muss doch noch mindestens zwei Wochen hierbleiben«, fing Paul an, »und da wollte ich dich fragen …«
»Klar sag ich dir die Hausaufgaben durch und so«, unterbrach Paula. Die Flatow-Schule war zwar ein ganzes Stück weiter von zu Hause entfernt als die Humboldt-Oberschule, aber mit dem Fahrrad war das locker in zwanzig Minuten zu schaffen.
»Nein, ich mein was anderes …«
»Na, von mir aus räum ich auch dein Zimmer schon mal so weit ein, wie ich kann.«
Statt vor Dankbarkeit und Begeisterung vor ihr niederzufallen – okay, das ging natürlich schlecht mit Gipsbein –, fummelte er an dem Strohhalm in seiner Bionade-Flasche herum und konnte seiner Schwester offenbar nicht gerade in die Augen sehen.
»Wenn ich gleich am ersten Tag fehle: Was macht denn das für einen Eindruck?«, druckste er rum.
»In der Schule?«, fragte Paula irritiert. Seit wann war Paul denn so schulversessen?
»Quatsch! Nicht in der Schule …«
»Wo denn sonst? Bei deinen Herthanern?«
Paul nickte dankbar. Paula fasste es nicht! Was Paul da mal wieder für einen Riesenwirbel wegen gar nichts machte! Jungs waren manchmal wirklich – wie sagte Oma immer? – echte Zimperliesen.
»Mensch, Paul, wo ist denn da das Problem? Mama ruft bei eurem Trainer an, sagt, dass wir ’nen Unfall hatten, und fertig.«
»Nein! Bloß nicht!« Um ein Haar hätte Paul sich die gesamte Bionade in den Schoß gekippt. »Das musst du unbedingt verhindern!«
Paula verstand endgültig überhaupt nichts mehr: »Was ist denn so schlimm daran, beim Training ein paar Mal auszufallen?«
»Mann, da gibt es Kids, die sind schon seit der Pampers-Liga bei Hertha BSC! Und die sind bestimmt nicht happy, wenn ihnen einer von auswärts den Platz in der D-Jugend wegnimmt und dann noch nicht mal auftaucht.«
»Na und? Wer in der D-Jugend spielt und wer nicht, das ist ja wohl immer noch eine Frage des Talents und nicht der Vereinszugehörigkeit.«
»Ja schon, aber …« Schweigen.
Komisch, dachte Paula. Ich bin nur vier Minuten älter als Paul. Und trotzdem kommt er mir manchmal vor wie ein kleiner Bruder. Als wär er gerade mal acht oder zehn.
Trotzdem: Sie konnte es einfach nicht mit ansehen, wie Paul den Kopf hängen ließ. »Also, worum geht’s, hm?«
Paul holte tief Luft. »Du musst beim ersten Training hingehen und ich sein.«
»Hä?!«
»Du tust, als wärst du ich. Spielst wie ein junger Gott, beeindruckst alle und dann hast du halt auf dem Rückweg vom Training … ’nen Fahrradunfall.«
»Tickst du nicht richtig?!« Paula sprang auf und stellte erschrocken fest, dass mittlerweile alle interessiert zu ihnen herübersahen. Streitende Zwillinge. Sicher ein Spitzenanblick!
Sie setzte sich wieder und blies die Backen auf. »Fahrradunfall? Du hast sie echt nicht mehr alle.«
»Natürlich nicht wirklich«, druckste Paul herum. »Es geht nur darum, erst mal ’nen super Eindruck zu machen. Dann sind alle voll von mir überzeugt und dann macht es auch nichts, wenn ich zwei, drei Wochen ausfalle. Wegen dem Fahrradunfall.« Er schaute sie erwartungsvoll an.
»Den es natürlich in echt nicht gibt«, setzte er hastig hinzu.
Paula schwieg.
»Bitte, Paula!« Er legte den Kopf schief und setzte zu seinem berüchtigten Schweini-Grinsen an.
»Lass den Dackelblick im Schrank, Paul. Das kannst du vergessen.«
»Aber …«
»Paul Schmidtke mit ’nem meterlangen Nackenzopf? Wie stellst denn du dir das vor?«
»N-na jaaa« Paul zerkaute seinen Plastikstrohhalm zu einem abstrakten giftgrünen Kunstwerk. »Deine Haare müssten natürlich ab, quasi …«
»Und ich soll mit Schweini-Bürste rumlaufen?! Quasi?! Du tickst doch wohl nicht richtig!!«, fauchte Paula.
»Quatsch. Kannst dir ja so ’ne Art Prinz-Eisenherz-Frisur schneiden lassen. So was tragen auch manche Jungs. Glaub mir, dann merkt garantiert keiner, dass du nicht ich bist!« Paula stand auf, zupfte ihrem Bruder das zerkaute Strohhalm-Gebilde aus der Hand und schob den Rollstuhl energisch in Richtung Fahrstuhl-Foyer. »Vergiss es, Paul. Die Haare bleiben dran und basta!«
Zurück in ihrem Krankenzimmer grübelte Paula trotzdem noch eine ganze Weile über die Sache nach. Klar war das blöd, dass Pauls Hertha-Karriere gleich mit einem wochenlangen Totalausfall beginnen sollte.
Und klar hätte genauso gut sie auf dem Beifahrersitz landen können: Schnick, schnack, schnuck: Papier umwickelt Stein. Dann läge sie jetzt mit Gipsbein in der Orthopädie.
»Trotzdem!«, sagte Paula laut zu sich selbst. Das mit dem Pagenkopf war echt ’ne Nummer zu viel.
Am Spätnachmittag wurde eine neue Patientin ins Zimmer geschoben. Sie hing am Tropf und schlief die ganze Zeit.
Paula stellte den Fernseher an, setzte den Kopfhörer auf und zappte erneut durch die Kanäle, aber es liefen überall nur doofe Gerichtsshows.
Der Kuchen, der pünktlich um halb vier geliefert wurde, schmeckte nach Sägemehl mit Zucker. So ein Klinikalltag ist echt ätzend, dachte Paula. Paul ist wirklich nicht zu beneiden.
Entschlossen nahm sie die Klamotten aus der Reisetasche, die Oma Helga ihr gebracht hatte, und legte sie schon mal zurecht. Gleich morgen früh würde sie die Klinik verlassen. Und für Pauls Problem würde sich sicher eine Lösung finden.
Als Paula am nächsten Tag vom Krankenhaus nach Hause kam, hatte Carlotta ein riesiges »Willkommen!«-Schild an die Tür gehängt und das Balkonzimmer über und über mit Krepppapier-Girlanden dekoriert. Sie saß mitten auf Tante Käthes blauem Samtsofa und sagte keinen Ton.
»Hallo, Pipp… äh … Carlotta!« Gerade noch rechtzeitig fiel Paula ein, dass Carlotta ihren Spitznamen nicht ausstehen konnte. Sie schaute sich um. »Sieht toll aus!«
Carlotta sagte immer noch nichts. Langsam wurde die Stille ein bisschen unbehaglich.
»Ist irgendwas?«, fragte Paula.
Carlotta schüttelte den Kopf und sagte hoheitsvoll: