Und dennoch: Praktisch unbemerkt von der globalen Sportindustrie haben die Kinder des kolumbianischen Bauerntums im Radrennfahren eine Zuflucht vor ruralem Niedergang gefunden, einen Ort, an dem sie traditionelle bäuerliche Tugenden wie Geduld und Beharrlichkeit, klare Beobachtungsgabe und das stoische Erdulden körperlicher Schmerzen ausspielen können. Der Radsport hat ihnen erlaubt, den Wechsel ins Herz des globalen Kapitalismus zu vollziehen und sich ein beträchtliches Auskommen zu sichern, bezahlt aus den Marketingtöpfen von Unternehmen, die darauf aus sind, ihre Waren auf nationalen und transnationalen Märkten zu verkaufen. Manche dieser Fahrer haben den globalen Sport sogar gegen die Kräfte der Gleichmacherei gewendet und ihn genutzt, um eigene lokale Identitäten zu stärken. Einige von ihnen haben inzwischen sogar die Nummer des kolumbianischen Präsidenten auf Kurzwahl gespeichert. Und, in einem Land, das einen so jähen, desorientierenden Wandel erlebt hat, ist ihr Erfolg und ihr Status auch sehr eng mit kolumbianischer Nationenbildung verwoben. Das ist die Geschichte, die in diesem Buch erforscht wird.
Natürlich ist es richtig, dass auch die Anpassung an die Höhe in der Geschichte des kolumbianischen Radsports eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben dürfte. In den 1950er Jahren stellte der kolumbianische Soziologe Orlando Fals Borda über eine bäuerliche Gemeinschaft aus dem Dorf Saucío, nördlich von Bogotá in einer Höhe von 2.689 Metern gelegen, fest:
Der mestizo von Saucío hat einige besondere Eigenschaften. In einer dünnen Atmosphäre mit einem Sauerstoffpartialdruck von nur etwa 120 Millimetern lebend (im Vergleich zu 153 Millimetern auf Meereshöhe), ist er mit einer erstaunlichen Lungenkapazität ausgestattet. Männer haben eine breite Brust und breite Schultern, verfügen über ungewöhnliche körperliche Ausdauer und sind hervorragende Langstreckenläufer. Der Herzschlag ist tendenziell langsam (Bradykardie); der Mann aus Saucío weist viele der Eigenschaften eines Athleten auf.
Es wäre durchaus möglich gewesen – und hätte vielleicht eher dem Zeitgeist entsprochen – in diesem Buch eine populärwissenschaftliche Fabel zu spinnen (sie hätte Das Muisca-Gen heißen können), die individuellen Sturm und Drang nur nebenbei zur Kenntnis nimmt und breitere kulturelle Faktoren gänzlich ignoriert, um stattdessen genetisches Erbe zu rühmen. Aber Das Muisca-Gen würde über all die hoch gelegenen Orte auf der ganzen Welt hinwegsehen, die eben keine herausragenden Radsportler hervorbringen, und auch den gegenwärtigen Wissensstand ignorieren, demzufolge in der Höhe zu schlafen zwar förderlich ist, man das Training aber besser auf Meereshöhe absolvieren sollte.
Stattdessen setzt dieses Buch bei den Lebensgeschichten der Fahrer an. Sie im Kontext der Familien und Gemeinden zu sehen, die sie formten, während Handel, Wirtschaftswachstum, digitale Technologien und neue Formen von Identität ihr Land und die weitere Welt prägten, bedeutet, in jedem Einzelnen von ihnen ein Universum zu sehen – ein Universum, in dem man das »neue Kolumbien« aufsteigen sehen kann wie eine sprudelnde Quelle frischen Wassers, an dem dieses Land so überaus reich ist. Und dies alles zieht die Betrachtung weiterer Kontexte und größerer Zeiträume nach sich: die Geschichte des Bauerntums, Kolumbiens Beziehungen zu Europa und der weiteren Welt und die Ankunft der ersten Europäer im Hochland der Anden ein Jahrtausend – oder nur einen Moment – zuvor.
1
Kalte Energie
Begleitet von Wetterleuchten hüllt die rasch hereinbrechende tropische Nacht die Berge von Iguaque ein, die sich wie eine gewaltige Woge über Vereda La Concepción erheben. Eine vereda ist ein Stück Ackerland, das unter mehreren Haushalten aufgeteilt ist. Die Nächte hier oben in der hoch gelegenen Provinz Boyacá sind kalt und 3.000 Meter über dem Meer seufzt man unwillkürlich nach jeder Bewegung.
Die heraufziehende Dunkelheit verbirgt den See, dem, den Erzählkränzen der Muisca zufolge, in der Zeit der Ahnen die Urmutter Bachué entstieg, um die Erde zu bevölkern. Weiter unten liegen die Hänge, wo im März 1537 unserer Zeitrechnung – der andere relevante Kalender ging verloren – ein bärtiger Wanderer namens Gonzalo Jiménez de Quesada auftauchte, an der Spitze von 170 halb verhungerten Spaniern.
Elf Monate zuvor waren die angehenden Konquistadoren von der Karibikküste aufgebrochen. 600 ihrer Männer waren auf dem Weg Erschöpfung und Krankheit erlegen, bevor die friedfertigen Muisca ihnen skeptisch ihren Beistand anboten. Doch diese Expedition war nur eine von acht, die dieses Hochland bis 1550 unterwerfen würden. Heute sind die einzigen verbliebenen Spuren der indigenen Kultur, die dem flüchtigen Beobachter offensichtlich sind, die Namen der Orte. Vereda La Concepción liegt an einem Hang rund sechs Kilometer vom Dorf Cómbita entfernt, was entweder »Hand des Tigers« oder »Stärke des Gipfels« bedeuten soll.
Ich fragte Nairo Quintana nach ihnen: nach Bachué, der Urmutter, nach Bochica, dem Gesetzgeber, nach Chía, der Mondgöttin. Was bedeuten die alten überlieferten Geschichten in der heutigen Zeit?
»Das ist, wer wir sind«, sagte er zu mir.
Doch während die Jahrhunderte vergehen, scheinen wir immer weniger über die Muisca zu wissen. Der Letzte, der ihre Sprache beherrschte, soll um das Jahr 1870 herum gestorben sein, und ein Großteil dessen, was von ihr übrig geblieben ist, ist in zwei Dokumenten enthalten, die Ende des 18. Jahrhunderts aus der Neuen Welt nach Europa verschickt wurden, um in das Vergleichende Wörterbuch aller Sprachen und Dialekte von Katharina der Großen aufgenommen zu werden. Als er sie erhielt, beschloss Karl III., der angeordnet hatte, die indigenen Sprachen in seinem Herrschaftsgebiet auszumerzen, sie nicht nach Sankt Petersburg zu senden, sondern in seiner Privatbibliothek zu verwahren – mit anderen Worten: die Idiome, die in diesen unbezahlbaren Pergamenten beschrieben werden, sind dank ihres Sammlers ausgestorben.
Nicht auszuschließen, dass die Kolonialherren einfach ein Dutzend eigenständige Gruppen in Lager pferchten und eine ganze Reihe komplexer Dialekte zu einer Art elementarem Muiscaranto zusammenfassten. Falls dem so wäre, ist alles, was wir über ihre Sprache zu wissen glaubten, hinfällig – und die Conquista hat das Volk der Muisca weniger vernichtet, als dass sie es erschaffen hat.
Durch die Eingangstür gelangt man in einen leeren Vorbau und dann in das eigentliche Haus. Emiro López, Anfang sechzig, steht auf der Schwelle zwischen der Küche und dem Raum, wo seine Frau Isabel Monroy, genannt Mamá Chavita, seit vielen Jahren den Kindergarten Pato Lucas leitet (obschon sie nicht gerade zart gebaut ist, bedeutet chavita ganz einfach »klein«). Emiros Augen leuchten, als er ein Vierteljahrhundert in der Zeit zurückreist.
»Er kroch genau hier langsam über den Boden«, sagt er. »Ich hob ihn auf« – er tut so, als würde er ein kleines Kind hochheben, in dessen Blick keine Spur von Wiedererkennen ist – »und sagte zu Isabel: ›Da ist kein Leben in ihm. Der Junge wird sterben.‹«
Nairito – »Kleiner Nairo« –, acht Monate alt, war abgemagert und von Durchfall geschwächt. Sein Bauch war erschreckend geschwollen, sein Haar borstig. Nur wenige glaubten, er würde das Säuglingsalter überleben.
Gegenüber von Emiro steht, mit dem Rücken zum Ofen, Mamá Chavita selbst. Sie sagt zu mir, in schönem, bäuerlichem Spanisch: »Tentaron de ese tiempo que lo había tentado era antes de defunto«, was ich ungefähr so verstehe: »Etwa zu der Zeit wurde er von einem Leichnam versucht.« Das Verb tentar hat Anklänge an »reizen« oder »verführen«. Mit anderen Worten: Nairo wurde auf irgendeine Weise von einer fremdartigen Anziehungskraft umworben oder in Versuchung geführt, die von einer toten Frau ausging.
Er war am 4. Februar 1990 zur Welt gekommen, als Sohn von Luís Quintana, einem Markthändler aus dem benachbarten Vereda Salvial, und seiner Frau Eloísa Rojas. Ihre Gesichter erzählen die Geschichte dieser Hügel: Luís ist rotgesichtig, hellhäutig, grünäugig; Eloísa hat langes glattes Haar und dunkle Muisca-Züge. Als junger Mann mietete Luís eine Hütte an einer geschäftigen Straße und begann, Gemüse zu verkaufen. Der Ort ist leicht zu finden: Man muss nur einen Online-Kartendienst aufrufen und nach Tienda la Villita suchen. Das imposante Gebäude, das man dort sieht, ist Beleg für Luís’ Geschäftstüchtigkeit: Der Laden ermöglichte ihm, das Land zu kaufen – von dem er einen