Zwischen 1996 und 2001 zogen eine Million kolumbianische Staatsbürger ins Ausland. Viele Landbewohner flohen in die Städte. Eine kleine Minderheit entschied sich, gefangen von Geografie oder dem Traum vom leicht verdienten Geld, den Lebensunterhalt mit illegalem Drogenanbau oder als Teil der verbotenen bewaffneten Gruppen zu bestreiten. Bis 2000 war Kolumbien der weltgrößte Erzeuger von Kokablättern. 30 Prozent der Städte und Dörfer waren in der Hand der FARC oder von dessen Guerilla-Rivalen, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), weitere 30 Prozent standen unter der Kontrolle paramilitärischer Gruppierungen. Schätzungen zufolge zählte die FARC 18.000 Kämpfer, die ELN weitere 6.000 und die Paramilitärs zwischen 10.000 und 14.000, vielleicht waren es aber auch weit mehr: 2010 behauptete Präsident Álvaro Uribe, dass in seiner achtjährigen Amtszeit 52.000 Subversive jeglicher Couleur die Waffen niedergelegt hätten.
Die Demobilisierung illegaler bewaffneter Gruppen war nur ein Teil einer bemerkenswerten Wende. Kolumbien hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Heute ist es ein komplexes, multikulturelles, einkommensstarkes Land mit einer vielfältigen Bevölkerung, einer lebendigen öffentlichen Sphäre, einer kämpferischen und unabhängigen Presse und einem Freihandelsabkommen mit den USA; es versorgt die Welt mit Avocados und Bananen, Kaffee, Schnittblumen und Rohöl – und auch mit Tanz, denn Salsa verdankt einen Großteil seiner globalen Verbreitung der kolumbianischen Auswanderung. Kolumbien ist nicht nur der weltgrößte Erzeuger von Smaragden, sondern exportiert außerdem Gold, Silber, Platin, Nickel und Coltan. Hätte die Geschichte einen anderen Weg genommen, würde die Welt wohl mit dem Namen Kolumbien sogleich bunte Orchideen, Kolibris und Amphibien assoziieren. Der Biologe E. O. Wilson betonte, dass Kolumbien aufgrund seiner Artenvielfalt zu »den ›Megadiversitäts‹-Ländern der Erde gezählt werden sollte, mit einer Fauna und Flora, mit der es allenfalls Brasilien aufnehmen kann«.
Ausländische Investoren und Touristen zieht es in Strömen in seine westlich angehauchten Städte und an seine Bilderbuchstrände. Die Radsportler Peter Sagan und Chris Froome waren nur zwei von 3,1 Millionen Besuchern aus Übersee im Jahr 2014. Unterdessen verkündete die internationale Presse: »›Lebt wohl, Waffen !‹ – Entwaffnung der FARC in Kolumbien läutet neue Ära ein« (New York Times), »Kolumbien – eine transformierte Nation« (Miami Herald), »Kolumbien: vom Failed State zu Lateinamerikas Powerhouse« (Daily Telegraph). Seit Dezember 2015 werden Reisende aus Kolumbien, einst unerwünscht, auch im Schengen-Raum willkommen geheißen, ein Visum ist nicht erforderlich.
Es ist schwer vorstellbar, dass die Erfolge im Radsport in dieser dramatischen Wende keine Rolle gespielt hätten. Seit Rigoberto Urán im Jahr 2006 nach Europa ging und Nairo Quintana im Jahr 2010 die Tour de l’Avenir gewann, haben sich zahlreiche talentierte kolumbianische Fahrer in der UCI WorldTour und auf den Fernsehschirmen der Welt hervorgetan. Einer der wichtigsten Kanäle für diesen Talentfluss war das Radsportprojekt, das unter der Ägide einer nationalen Rebranding-Kampagne namens »Colombia Es Pasión« ins Leben gerufen wurde – »Kolumbien ist Leidenschaft«.
Der Leiter der Kampagne war Luís Guillermo Plata, der unter Präsident Álvaro Uribe (2002 bis 2010) den Vorsitz von ProExport innehatte – der Regierungsbehörde, die dafür verantwortlich war, den kolumbianischen Tourismus und Handel anzukurbeln. In einem Restaurant in Bogotás Nobelbezirk Usaquén erläuterte er mir die Entstehung der Initiative: Als wir 2002 an die Macht kamen, drohte Kolumbien zu einem Failed State zu werden. Man konnte so ziemlich jeden Indikator heranziehen: Wo oben gut ist, waren wir unten, und wo unten gut ist, waren wir oben. Uribe begann, Dinge zu verändern. Um 2005 herum, nach knapp drei Jahren in der Regierung, erreichten wir den Punkt, an dem sich die Gegebenheiten signifikant veränderten. Aber die internationale Wahrnehmung hielt nicht Schritt. Also überlegten wir: Wie können wir diese Diskrepanz in der Wahrnehmung schließen? Daher riefen wir Colombia Es Pasión ins Leben.
Die Idee war, etwas Einzigartiges zu finden, etwas sehr Kolumbianisches, eine Marke, die wir in vielen Bereichen nutzen konnten. Man macht beispielsweise ein Hemd und sagt: »Hergestellt in Kolumbien mit Leidenschaft«. Oder man verkauft Kaffee oder Obst oder was auch immer und sagt: »Angebaut in Kolumbien mit Leidenschaft«. Und das wurde zum Slogan des Dachverbands für Tourismus, Investitionen und Handel.
Wir riefen die Kampagne irgendwann 2005 ins Leben, und Coldeportes – quasi das Sportministerium – sagte: »Warum picken wir nicht einen Sport heraus und nutzen ihn, um für Kolumbien zu werben?« Ich sagte: »Tolle Idee. Wir sind ganz gut im Fußball, aber wir sind nicht Brasilien oder Argentinien. Der einzige Sport, in dem wir wirklich herausragend sind, ist der Radsport. Lasst uns eine Mannschaft sponsern.«
Nairo Quintana, Esteban Chaves, Darwin Atapuma, Jarlinson Pantano, Sergio Luís Henao, Fabio Duarte und Sergio Higuita durchliefen allesamt Colombia Es Pasión bzw. dessen Nachfolger 4-72 Colombia und Manzana Postobón. Sie trugen dazu bei, die Präsenz kolumbianischer Fahrer in WorldTour-Teams zum Normalzustand zu machen. Aus Colombia Es Pasión gingen später noch zwei weitere Teams hervor, Colombia und Claro-Coldeportes, die wiederum Sebastián Henao und die Sprinter Fernando Gaviria und Álvaro Hodeg hervorbrachten.
Die Erfolge all dieser Fahrer stellen eine Form von Soft Power dar, die dazu beitrug, die Integration des Landes in die Weltwirtschaft voranzutreiben. Die Ironie ist, dass die meisten der kolumbianischen Radprofis in der WorldTour – die große Mehrheit, wenn man ihre Eltern und Großeltern mit einbezieht – einer sozialen Gruppe entstammen, deren Lebensweise gerade nicht der allgemeinen Vorstellung von Wachstumsimpulsen und florierender Wirtschaft entspricht: die der campesinos, der Kleinbauern, zumeist Bewohner von rückständigen Familienfarmen auf wenig ergiebigem Land, wo religiöser Glaube bis heute tief verwurzelt und individuelle Freiheit traditionell größeren Gemeinschaftsstrukturen untergeordnet ist. Die Geschichte des kolumbianischen Radsports ist unausweichlich die Geschichte des kolumbianischen Kleinbauerntums und dessen Reaktionen auf eine Zeit der Krise.
In Westeuropa und Nordamerika ist das Bauerntum längst weitgehend verschwunden. Tatsächlich können die drei großen dreiwöchigen Landesrundfahrten durch Italien, Frankreich und Spanien, mit ihren Endpunkten in Mailand, Paris und Madrid, als eine Feier ihres Verschwindens gelesen werden – jährliche Reenactments des Bevölkerungswandels von der ruralen zur urbanen Welt: eine Deklaration, in der Sprache des Sports, dass die Zukunft innerhalb von Stadtmauern liegt.
Doch in Lateinamerika hat das Bauerntum überdauert und pflegt eine faszinierende hybride Identität. Natürlich büßten die früheren Bewohner unter europäischer Herrschaft ihr bestes Land, Wasserversorgung, soziale Komplexität und einen Großteil ihrer Bevölkerung ein. Dennoch war die spanische Krone bestrebt, die Unabhängigkeit der Konquistadoren einzuschränken: Historiker sprechen gar von einer zweiten Unterwerfung, die auf die erste folgte – die der Eroberer durch die Krone. Als ultimative Autorität über territoriale Aneignung und Besiedlung bestand der spanische Monarch außerdem darauf, die Kontrolle über den Schutz der indigenen Gemeinschaften und die Rettung ihrer Seelen zu wahren. Zu diesem Zweck gestattete er ihnen ein gewisses Maß an Autonomie. Dieser dubiose Schutz erlaubte ihnen, als Gemeinschaften zu überdauern, die zuweilen als campesindio bezeichnet wurden, einem Kofferwort aus campesino, Kleinbauer, und indio, dem irrtümlichen Produkt von Kolumbus’ geografischer Verirrung.
Jahrhundertelang war die rurale Wirtschaft kontrolliert, ausgebeutet und von politischer Macht ausgeschlossen worden, aber erst heute ist ein Punkt erreicht, an dem sie unter dem Druck von Freihandelsabkommen und den numinosen Reizen von Smartphones und urbaner Konnektivität zusammenbricht und mit ihr bäuerliche Identitäten verloren gehen – nicht zuletzt, weil die Lebensweise dieser Kleinbauern in einer Nation, die als eine aufstrebende gelten möchte, in gewisser Weise eine Peinlichkeit darstellt. Und dies wiederum ist ein Abbild der ambivalenten Weise, in der Kolumbianer, auch die urbanen und gebildeten, nicht nur die rurale Welt der Kindheiten ihrer Radsporthelden wahrnehmen, sondern auch die Integration in die weitere Welt, die in ihren sportlichen