Gleichzeitig bietet der Radsport dem Land seit langem einen Zugang in die Gemeinschaft der Staaten und Kolumbiens internationale Ambitionen waren stets mit ihm verwoben. 1953 führte Forero das erste Team seines Landes bei der Route de France an (der heutigen Tour de l’Avenir, einer Art Mini-Ausgabe der Tour de France für U23-Fahrer). Schlecht vorbereitet und ebenso ausgerüstet, waren er und seine Teamkollegen binnen vier Etappen aus dem Rennen. Forero reiste anschließend zu den Weltmeisterschaften 1953 nach Lugano in der Schweiz und schaffte es in die entscheidende Fluchtgruppe, bevor ein Reifenschaden seine Hoffnungen zunichtemachte.
Im Dezember 1957 reisten die Tour-Sieger Fausto Coppi und Hugo Koblet, beide mehr oder weniger im Ruhestand und auf der Suche nach zukünftigen Geschäftsfeldern, durch Süd- und Mittelamerika. Dort begegneten sie dem erstaunlichen Ramón Hoyos, dem fünfmaligen Sieger der Vuelta a Colombia, der Vuelta Puerto Rico von 1954 sowie der Panamerikanischen Straßenmeisterschaften von 1955. Coppi versuchte, ihm einen Startplatz bei der Straßen-WM der Amateure 1958 in Reims zu verschaffen. Der WM-Kurs sei wie für ihn geschaffen, sagte er. Aber Hoyos’ Sponsor, der schwedische Radhersteller Monark, wollte ihn beim Sechstagerennen von Stockholm dabeihaben und pochte auf seinen Vertrag.
Der Radsport verwandelte sich bald in ein Mittel nationaler Projektion. 1966 gewann der beste Straßen- und Bahnradfahrer des Landes, Martín Emilio Rodríguez, allgemein bekannt unter seinem Spitznamen aus Kindertagen, Cochise, die erste Vuelta al Táchira in Venezuela. 1967 triumphierte sein Rivale Álvaro Pachón bei der Vuelta Mexico. 1970 siegten Kolumbianer bei einer weiteren Rundfahrt in Venezuela, der Vuelta de Barinas, sowie bei der Vuelta a Costa Rica. 1972 folgte die Tour de la Guadeloupe. Mitte der 1970er Jahre holten sie Siege auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent.
Dann wurde eine weitere Schwelle überschritten. Cochise Rodríguez hatte sich 1970 mehr oder weniger von der Straße zurückgezogen, als er den Amateur-Stundenweltrekord brach. Im Jahr darauf wurde er Amateurweltmeister in der Einerverfolgung. Während er sich auf die Olympischen Spiele in München vorbereitete, wurde er des Professionalismus bezichtigt und gesperrt, also schloss er sich der italienischen Bianchi-Mannschaft an, holte die ersten beiden Giro-Etappensiege für Kolumbien und bestritt dann als erster Fahrer seines Landes die Tour de France.
Cochise machte seinen Weg weitgehend auf sich allein gestellt. Es dauerte bis 1980, als Alfonso Flores an der Spitze der Nationalmannschaft die Tour de l’Avenir gewann, dass sich endlich die Tore der größten Radsportveranstaltung der Welt öffneten. 1983 erklärte sich die Tour de France, in der Hoffnung, Mannschaften aus Osteuropa und Lateinamerika anzulocken, offen für Amateure. Nur die Kolumbianer folgten dem Ruf. Innerhalb eines Jahres feierten sie ihren ersten Etappensieg – noch dazu bei der legendären Bergankunft in Alpe d’Huez – in Person von Luís Herrera, des ersten internationalen Radsport-Superstars des Landes, einer Erscheinung von derart schmächtiger Gestalt, dass er wie eine aus Stahldraht gefertigte Skulptur wirkte, geflochten in einer Stadt, deren einheimischer Name, Fusagasugá, Knoten in europäische Zungen machte. 1987, zwei Jahre nachdem sein Landsmann Francisco Rodríguez bei der Vuelta a España den dritten Platz belegt hatte, holte Herrera dort den Gesamtsieg und wurde damit der erste Grand-Tour-Sieger aus einem Entwicklungsland – und zwar in den Farben der Vorzeige-Marke der Nation, Café de Colombia. Im Jahr darauf fuhr Fabio Parra aus Sogamoso, vor der Ankunft der Europäer ein Zentrum der Sonnenanbetung, bei der Tour de France aufs Podium. 1989 wurde er Zweiter der Vuelta a España, vor seinem Landsmann Óscar Vargas.
Dann schien die Sonne unterzugehen. Café de Colombia zog sich Ende 1991 als Sponsor aus dem Radsport zurück, gefolgt von anderen langjährigen einheimischen Sponsoren wie den Getränkeherstellern Glacial, Manzana Postobón und Pony Malta. Regionale Geldgeber sprangen in die Bresche: Lotterien, Behörden, Sportverbände und die regionalen Konzessionsinhaber für Rum und den aus Zuckerrohr gewonnenen, nach Anis schmeckenden Schnaps namens aguardiente. Eine Handvoll privater Unternehmen – Digitaldienstleister, Fruchtsaftproduzenten, Kurierdienste – sponserten Teams, aber es fand nur wenig strukturierte Sportentwicklung statt. Als der Gebrauch leistungssteigernder Substanzen epidemische Ausmaße annahm, schloss sich der kolumbianische Radsport, einst ein entscheidender Vektor internationaler Kommunikation, vom Rest der Welt ab.
Und das war noch das Geringste der Probleme des Landes.
1960 waren die hauptsächlichen Todesursachen in Kolumbien intestinale, respiratorische und perinatale Infektionen. In den 1970er Jahren waren es Krebs, Herzkrankheiten und zerebrovaskuläre Erkrankungen. Im Jahrzehnt darauf war die häufigste Ursache, zumindest unter männlichen Kolumbianern, Mord. Der Kokain-Milliardär Pablo Escobar, der nach eigenem Bekunden einen Grabstein in Kolumbien einer Gefängniszelle in den USA vorzog, nahm zunächst Richter, Anwälte und Polizisten ins Visier – Alltagshelden, die sich seiner Korruption widersetzten –, bevor er dazu überging, in den Straßen der Städte Bomben zu legen.
In einer modernen, globalisierten Variante der Prohibition, in der eine Reihe von Staaten die Gewalt in einer anderen Reihe von Staaten durch ihre Drogenkäufe finanzierten, zerfleischte Kolumbien sich selbst. Kein Land hat mehr gelitten im Krieg gegen die Drogen.
Die Radrennfahrer, um die es in diesem Buch geht, waren sehr jung oder noch nicht geboren, als Pablo Escobar gestellt und getötet wurde, und noch immer sehr klein, als sich herausstellte, dass das Cali-Kartell, das inzwischen 80 Prozent des amerikanischen und europäischen Kokainbedarfs bediente, den erfolgreichen Wahlkampf von Ernesto Samper finanziert hatte, dem Präsidenten des Landes von 1994 bis 1998. Dennoch wurden sie und ihre Generation auf der ganzen Welt wegen der Verbrechen einiger weniger stigmatisiert, mit dem Ergebnis, dass Kolumbien mit dem Rücken zur Wand stand: Der Status als Partner im Kampf gegen Drogen war von der Clinton-Regierung aberkannt worden, die Wirtschaft lag in Trümmern, die Institutionen waren unterwandert, der Präsident in Ungnade gefallen und weite Teile des Landes von illegalen bewaffneten Gruppierungen kontrolliert.
Doch die Wirtschaft erwies sich als robust. In den 1980er Jahren, als Hyperinflation und Rezession in Lateinamerika grassierten, bildete Kolumbien mit 30 Prozent Inflation und 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum eine Ausnahme in der Region. Dennoch, als die Weltbank und der Internationale Währungsfond der Hemisphäre eine komplette wirtschaftliche Runderneuerung verordneten, blieb Kolumbien nicht verschont. Und so wurden im Februar 1990 – Nairo Quintana war damals zwei Wochen alt – Einfuhrlizenzen aufgehoben, Abgaben drastisch reduziert, der Arbeitsmarkt dereguliert und die kolumbianische Wirtschaft für internationale Investitionen geöffnet. Was durch die geschwächte Industrie verloren ging, wurde durch den gestärkten Handels- und Dienstleistungssektor mehr als kompensiert. Zumindest in den Städten. Auf dem Land indes gediehen vornehmlich für den Export bestimmte Erzeugnisse wie Ölpalmen, Holz, Kakao und Obst, und die Inflation trieb die Preise für Treibstoff, Energie und Agrochemikalien in die Höhe, bis sie nicht mehr erschwinglich waren für die Kleinbauern der Nation, die campesinos, von denen zwischen 1991 und 1993 eine Viertelmillion ihre Beschäftigung verlor.
Um die Dinge weiter zu verkomplizieren, wurde eine neue modernisierende, inklusive politische Verfassung aufgesetzt, um das alte Zweiparteiensystem zu reformieren. Als sie 1991 in Kraft trat, übertrug sie politische Macht an die Regionen, finanziert durch Gelder aus der Hauptstadt, die sich auf acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen. Guerillas und paramilitärische Gruppen in entlegenen Regionen rissen sowohl das Geld als auch die Macht an sich. Der Staat endete als hauptsächlicher Geldgeber für seine eigene Zersetzung.
Die größte der Rebellengruppen, die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), zu Deutsch die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Staat zu übernehmen und nichts zu tun,