„Seid ihr Bullen?“
Burke spürte geradezu körperlich den Anprall von Misstrauen und kühler Reserviertheit. „FBI“, sagte er. „Ich bin Special Agent Burke.“ Mit einer knappen Handbewegung auf Ron weisend fügte er hinzu: „Mein Kollege Ron Harris. Es geht um Kathleen Anderson.“
„Kenn ich nicht.“
„Okay“, stieß Owen Burke hervor, „reden wir Klartext. Uns ist klar, weshalb ihr hier steht und wartet. Und ihr wisst genauso gut wie wir, dass das, was ihr hier treibt, verboten ist. Aber mein Kollege und ich sind nicht hierhergekommen, um euch wegen eures verbotenen Tuns einen Strick zu drehen. Nein, ganz sicher nicht. Wir sind hier, weil Kathleen Anderson entführt wurde und zu befürchten ist, dass der Kidnapper sie am Sonntag ermordet, nachdem er sie drei Tage lang gequält hat. Also haben Sie Vertrauen, Ma‘am, und beantworten Sie unsere Fragen.“
Sie zögerte noch kurze Zeit, entschied sich aber und sagte: „Ich kann euch nicht viel sagen. Kathleen ist in einen Ford eingestiegen und nicht mehr aufgetaucht. Eine Freundin hat die Nummer des Wagens aufgeschrieben. Die Nummer hat die Polizei.“
Die Frau schwieg.
„Wie heißen Sie?“, fragte Ron.
„Penny. Sagen Sie einfach Penny zu mir.“
„Wurde der weiße Ford schon öfter hier gesehen?“
„Wer achtet schon darauf? Viele unserer Kunden fahren einen weißen Ford. Nachdem Hildred Turner ermordet worden war, haben wir begonnen, uns die Zulassungsnummern der Wagen der Kunden zu notieren.“
„Wer hat die Nummer des Wagens notiert, mit dem Kathleen weggefahren ist?“
„Ann. Sie müssen etwa dreihundert Yards weiterfahren. Dort steht Ann. In ihrer Nähe befand sich auch Kathleen.“
Die Agents gingen die dreihundert Yards zu Fuß. Eine Prostituierte lehnte an einer Hauswand, hatte den linken Fuß angewinkelt und dagegengestemmt. Sie maß die Agents misstrauisch von oben bis unten.
„Sind Sie Ann?“, fragte Owen Burke.
„Ja. Ihr seid Bullen, nicht wahr? Das sehe ich euch an der Nasenspitze an. Ihr könnt mir gar nichts. Ich darf hier stehen, solange ich will. Das ist ein freies Land und ...“
Burke unterbrach sie, indem er hervorstieß: „Wir ermitteln wegen der Entführung Kathleen Andersons. Zuvor wurden vier Frauen, die hier anschafften, brutal ermordet. Es ist zu befürchten, dass sich Kathleen in der Gewalt des Mörders befindet.“
Ann gab ihre lässige Haltung auf und kam einen Schritt näher. „Es muss ein Verrückter sein, ein Wahnsinniger. Wir alle haben furchtbare Angst.“
„Sie haben die Zulassungsnummer des Wagens notiert, in den Kathleen gestiegen ist.“
„Ja.“
„Wurde der Ford schon vorher einmal hier gesehen?“
„Am Tag vor ihrem Verschwinden fuhr Kathleen ebenfalls mit einem weißen Ford weg. Ich hatte seine Nummer aufgeschrieben. Nachdem Kathleen unversehrt zurückkehrte, habe ich den Zettel in die Mülltonne geworfen.“
„In welche Mülltonne?“
Ann wies mit dem Daumen über ihre Schulter. Einige Schritte entfernt stand ein Müllcontainer. „Er ist heute geleert worden“, sagte Ann. „Der Unrat ist zwischenzeitlich wohl in der Müllverbrennung gelandet.“
„Haben Sie die Zulassungsnummer noch im Kopf? Überlegen Sie mal, denken Sie nach!“ Burkes Stimme klang zuletzt drängend.
„Es war eine New Yorker Nummer“, erwiderte Ann und starrte nachdenklich auf einen unbestimmten Punkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß die Nummer nicht mehr. Tut mir leid.“
Ohne einen Schritt weitergekommen zu sein verließen die Agents die Morningside Avenue. „In diesem Fall scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben“, knurrte Ron Harris. „Warum mussten hier ausgerechnet heute die Mülltonnen entleert werden?“
Ja, es war zum Verzweifeln.
Sie kamen nicht weiter, sie traten sozusagen auf der Stelle.
Und sie hatten nicht mehr viel Zeit. Am Sonntag – dessen waren sich sowohl Owen Burke als auch Ron Harris sicher -, sollte Kathleen Anderson sterben. Wenn sie es nicht schafften, sie vorher aus den Klauen des Killers zu befreien, würde man ihnen am Montag die Leiche der jungen Frau präsentieren.
7
Am Samstag, dem 19. September, ging ein Brief bei der New York Times ein, in dem der Killer den Mord an Kathleen Anderson ankündigte. Das FBI wurde unverzüglich in Kenntnis gesetzt. Der Brief war mit einem Computer geschrieben und mit einem Tintenstrahldrucker ausgedruckt worden und ließ keinen Schluss auf den Verfasser zu.
Am 21. September wurde die Leiche Kathleen Andersons gefunden. Der Mörder hatte ihr das Herz aus der Brust geschnitten.
An diesem Tag erfuhren Burke und Harris auch von der Spurensicherung, dass in den konfiszierten Autos nicht ein einziger Hinweis auf die getöteten Frauen gefunden worden war. Jetzt war Wesley Cohan endgültig aus dem Schneider.
In der Pathologie wurde festgestellt, dass bei Kathleen Anderson der Tod schon am Sonntag, dem 20. September eingetreten war. Dem Gesetz der Serie entsprechend: An einem Donnerstag entführt, drei Tage später, an einem Sonntag, ermordet.
Was für ein System steckte hinter dieser Kontinuität?
Beim FBI hatte sich die Vermutung, dass es sich um Rachemorde handelte, verfestigt. Dass den Frauen die Herzen herausgeschnitten worden waren, sollte die Polizei auf eine falsche Spur führen.
„Vielleicht sollten wir mal die Selbsthilfegruppe unter die Lupe nehmen, der Mrs Cohan angehört“, schlug Ron vor.
Owen Burke holte die Visitenkarte, die ihm Mrs Cohan gegeben hatte, aus der der Jackentasche. „Ich will mal mit dem Leiter der Gruppe sprechen“, sagte er, nahm den Telefonhörer zur Hand und tippte die Telefonnummer Dr. Ramseys. Wenig später meldete sich eine männliche Stimme:
„Dr. Ramsey.“
„Hier spricht Special Agent Burke vom FBI New York“, sagte der Agent. „Sie leiten eine Selbsthilfegruppe, in der sich einige HIV-Infizierte zusammengeschlossen haben?“
„Das ist richtig. Warum fragen Sie?“
„Es geht um die Morde an den Frauen vom Straßenstrich. Sicher haben Sie in den Nachrichten davon gehört.“
„Ja. Schrecklich. Ich denke, dass ein Psychopath am Werk ist. Ein normaler Mensch würde den Frauen nicht die Herzen herausschneiden ...“
„Es gab ähnliche Morde in Baltimore, Cincinnati und Indianapolis. Wir nehmen daher an, dass eine Gruppe dahinter steckt. In New York wurden die die Frauen jeweils donnerstags entführt. Es begann am 20. August. Donnerstags werden auch die Treffs Ihrer Gruppe abgehalten.“
„Ja, das ist seltsam“, sagte der Professor. „Unsere Sit-ins finden immer in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr statt. Denken Sie etwa, dass jemand aus meiner Gruppe dahintersteckt?“
„Wir müssen jeder Möglichkeit nachgehen“, versetzte Burke.
„Ich verstehe. In meiner Gruppe befinden sich acht Männer und fünf Frauen. Einen Mord traue ich allerdings niemand von ihnen zu.“
„Mrs Cohan ist auch in Ihrer Gruppe.“
„Ja. Ihr Mann hat sie angesteckt, nachdem er irgendwann mal auf dem Straßenstrich sein Vergnügen gesucht hatte. Tragisch für die Frau. Bei ihr ist die Krankheit schon zum Ausbruch gekommen.“
„Wir haben mit Mrs Cohan gesprochen. Sie hasst Ihren Mann. Wie haben sich die anderen Mitglieder Ihrer Gruppe infiziert?“
„Fast