Den letzten Satz hätte er nicht mehr sagen dürfen. Der klingt in Benedicts Ohren schon wie der Abschied eines Mannes, der im Grunde seines Herzens weiß, dass die Katastrophe nicht mehr zu verhindern ist.
Zwei Stunden ringt der von Sorgen und Ängsten geplagte Mann mit sich, nachdem der Krisenstab auseinandergegangen ist.
Auch die Pillen, die ihm der Arzt >nur für ganz besondere Fälle< gegeben hat, zeigen wenig Wirkung.
Dann, es ist kurz nach 14 Uhr, wählt der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen die Telefonnummer des Bundeskanzleramts in Bonn.
Zur gleichen Zeit, als im Düsseldorfer Fernmeldeamt die Relais klicken, um eine Verbindung zwischen dem Innenministerium und dem schwarzen Bau in der Hauptstadt herzustellen, wählt Group Captain David Casson vom englischen Hauptquartier in Mönchengladbach ebenfalls eine Telefonnummer.
Den Group Captain bewegen ähnliche Sorgen wie den kleinen Mann im Düsseldorfer Innenministerium. Bei der Telefonnummer, die er deshalb wählt, handelt es sich um einen Anschluss im Londoner Verteidigungsministerium. Die Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldet, sagt: »SAS Joint Operations Centre, what can I do for you?«
*
Die im Krisenstab erzeugte Hochspannung entlädt sich dann am Nachmittag im ISAT-Büro in einem gewaltigen Knall. An Benedict, der mit Liszt und Herrmann die Beschaffung verschiedener Geräte bespricht, ist der Auslöser des Krachs zwischen Hart und O’Connell völlig vorbeigegangen. Nur das Ende des kurzen, aber heftigen Zusammenstoßes bekommt er völlig konsterniert mit. Der abschließende Knall der laut von Captain Hart zugeschlagenen Tür ist schließlich nicht zu überhören.
Die beiden Polizeimeister verschwinden sehr schnell, um die Dinge zu besorgen, die ihnen Benedict aufgetragen hat.
Der Hauptkommissar hört bis zu seinem Schreibtisch am Fenster, wie O’Connell wütend auf seiner kalten Pfeife herumbeißt. Als würden Knochen splittern! McGrath hat seinen Pferdekopf tief in einen Aktenordner gesteckt und mimt Abwesenheit.
Nicht die Tatsache an sich ist es, die Benedict verwundert. Nein, dieser Zusammenprall hat sich schon lange angekündigt. Die mit Nonchalance und Herablassung immer wieder eingeflochtenen antiirischen Spitzen des englischen S.I.B.-Mannes mussten ja irgendwann eine entsprechende Reaktion O’Connells provozieren. Aber was war jetzt der Anlass gewesen?
Nach einer Weile fragt Benedict dann doch: »Was war los?«
»Nothing! Mind your own business!«, belfert es in wütender Abwehr hinter der inzwischen wieder qualmenden Pfeife hervor.
»Mein Gott, sei nicht kindisch! Wir müssen das doch klären. Schon wegen unserer zukünftigen Zusammenarbeit!«
Dieses Argument scheint vorerst nur bei Chief Inspector McGrath auf Resonanz zu stoßen, denn der erklärt nach einer Pause: »Er hat O’Connell ziemlich arg beschimpft. Wenigstens indirekt. Ihr verdammten ... Macs hat er gesagt.« Auch jetzt geht ein vorsichtiger Blick auf O’Connell, aber der verschanzt sich hinter demonstrativem Pfeifengepaffe. Mut fassend, fügt der Belfaster Ire noch hinzu: »Das ist ungefähr so, als würdest du zu einem Farbigen >Bimbo< sagen. Nur noch schlimmer!«
»Ach so«, meint Benedict kopfnickend, ist aber noch weit davon entfernt, die Sache wirklich zu verstehen. Na gut, ein Schimpfwort. Sicher nicht das Passende. Aber deshalb so ein Aufstand?
Nach zwanzig Minuten gemeinsamen Vorsichhinschweigens öffnet Patrick O’Connell endlich seinen Mund. »Also gut. Ich will versuchen, dir das zu erklären. Wegen der Zusammenarbeit. Die Macs, das ist die von den englischen Kolonialbesetzern für die Iren gebrauchte Schimpfbezeichnung. Das kam von den bei uns gebräuchlichen Namen, die meistens entweder mit einem O wie O’Flaherty oder mit einem Mac wie ... MacGrath begannen. Schon in der Anglo-Normannen-Zeit waren die Iren in den besetzten Gebieten des Landes rechtlos.« Mit aufgesetzter Stimme, das Näseln des englischen S.I.B.-Captains kopierend, deklamiert der Dubliner: »That neither O' nor Mac shall strutte ne swagger thro' the streets of Galway.« Dann wieder mit normaler Stimme: »Mit anderen Worten, das von den Kolonialisten besetzte Galway durften Iren nicht betreten! Seitdem ist das Wort Mac, von einem Engländer gebraucht, Inbegriff der Abwertung und Nichtachtung der Iren. So wird es auch heute besonders von den englischen Soldaten in Nordirland gebraucht. Fuck'n Macs!«
»Und das hat der Jerry zu dir gesagt?«, wundert sich Benedict.
»Ach Quatsch! Er hat doch gar nicht mich persönlich gemeint!
Es ging um diese verdammten Provisionals, die wir hier aufspüren sollen!« O’Connell scheint sich nicht besonders wohl in seiner Haut zu fühlen. »Irgendwie ist da ’ne Menge zusammengekommen heute. Und da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt. Immerhin haben wir eine gemeinsame, wenn auch sehr unangenehme Geschichte. Sieh mal, ich komme zwar nur aus kleinen, katholischen Verhältnissen, Vater Polizeisergeant in Cork und Mutter vollauf mit dem Großziehen von sieben Kindern beschäftigt, aber ich konnte meinen Abschluss als Bachelor of Law am Cork University College machen, bevor ich zur GARDA ging. Meine Frau ist Lehrerin am Loretta Convent in Dublin. Natürlich sind wir praktizierende Katholiken, wer ist das nicht bei uns, aber ich würde meine Familie als liberal-republikanisch-aufgeklärt bezeichnen. Uns würde nie im Traum einfallen, Sinn Féin unsere Stimme zu geben. Wir wählen Fianna Fail! Aber trotzdem, irgendwo stecken der ganze Ballast unserer unglücklichen Verkettung mit England und die Erinnerung an die Opfer, die wir in unserer Geschichte bringen mussten. Ich weiß auch, dass einige meiner Kollegen von der Special Branch absichtlich weghören, wenn sie von einem Waffentransport der IRA erfahren. Wie gesagt, manchmal singt man selbst ganz tief drinnen auch die alten Lieder der Volunteers aus den Befreiungskämpfen gegen die Engländer mit. Und manchmal kommt es dann eben aus einem rausgekotzt! Na, ich werde heute Abend mit Jerry ein, zwei Gläser Whisky trinken und die Sache wieder bereinigen. Ausnahmsweise schottischen!«, fügt er schon wieder augenzwinkernd noch hinzu.
Erleichtert atmet der deutsche ISAT-Leiter auf. »Danke, Patrick. Für deine Erklärung und für deine ... Saufbereitschaft!«
Nachdenklich lässt auch McGrath wieder von sich hören. »Wie sich die Bilder doch manchmal gleichen. Ich würde meine Familie auch als aufgeklärt bezeichnen. Natürlich royalistisch-aufgeklärt. Keine Fanatiker. Wir haben katholische Freunde. Aber wenn am 12. Juli die Orangemen zum Gedenken an die Schlacht am Boyne ihre großen Trommeln schlagen, dann kriecht auch in meinen Eingeweiden dieses Steinzeitfeeling hoch, und ich muss mich mit aller Macht gegen den Wunsch stemmen, im Gleichschritt mitzumarschieren. Ja, ja. Aufgeklärt nennen wir uns. Wissen um viele Zusammenhänge. Aber die Tünche scheint ziemlich dünn!«
Auch für den Hauptkommissar gestaltet sich der Rest des Nachmittags eher grüblerisch. Bilderfetzen aus seiner Vergangenheit, losgerissen von den Erzählungen der beiden Iren, setzen ihm heftig zu. Mit welcher Sehnsucht er die blinkenden Fanfaren und flatternden Seidenwimpel der Pioniere damals betrachtete, wie er der Erste in der Klasse sein wollte, der das FDJ-Hemd überstreifte, um in der blauen Kolonne dem peitschenden Vorwärtsklang der silbernen Schalmeien zu folgen. Und die anderen Millionen? Jahre vorher. Andersfarbig. Und heute? »Wie dünn ist sie wohl, meine Tünche?«
Mittwoch, der Wochenteiler.
Tschüss, blue monday. Hallo, rosa weekend!
Im Disco-Club Yuppi Du, nahe der Stadtgrenze von Düsseldorf, zeigen die jungen Leute ihre Träume, Träume von Individualität finden ihren Ausdruck in glitzernden Fassaden aus Make-up, gestylten Frisuren und Neon Couture. Queen for one night. Der Michael Jackson aus der Itterstraße. Selbstvergessen tanzen die meisten einsam auf der bunt flackernden Laserfläche vor sich hin. Lassen sich bis ins Mark volldröhnen mit den lockenden Kunstprodukten der Plattenindustrie. Und nicht nur damit. Was soll’s, der müde Arbeitstag kommt früh genug.
Das