Aber die Stimmen verschwanden nicht. Im Gegenteil. Von Nacht zu Nacht wurden sie wütender und zänkischer. »Wir kriegen dich! Du entkommst uns nicht! Verschwinde! Wir sind viele hier draußen! Wir sind überall!«
Zur Wohnung seiner Mutter legte er eine Telefonleitung. So brauchte er die Laube nicht zu verlassen und wusste immer, wenn sie ihm das Essen bringen wollte.
Der Mann vor dem Rattenkäfig horcht nervös auf die nächtlichen Geräusche des großen Gartens. Dann richten sich seine verquollenen Augen auf die Wandregale mit den ordentlich aufgereihten Computerprogrammen. Seine schöne Bibliothek! Nein, das war nur noch ein schäbiger Ersatz, Nichts gegen das sich aufbäumende Fleisch eines zitternden Mädchenleibes. Nichts im Vergleich zu der angstvollen Unterwerfung in den Augen der Wehrlosen. Vor seinem Willen! Vor seiner Macht! Und dann ...
Aber wenn diese Stimmen da draußen ihn ... doch, doch, doch! Schon bald! Seine Rache!
*
Mittwoch, 14 Uhr. Der Sprecher des Bundespräsidialamtes in Bonn informiert die versammelten Medienvertreter über die offizielle Einladung des britischen Kronprinzenpaares durch den Bundespräsidenten. Zeitdauer und vorgesehene Besuchsstationen in der Bundesrepublik werden nun auch der Allgemeinheit bekanntgemacht. Berlin, Bonn, Köln, Düsseldorf und München werden sich auf einen heißen Novemberanfang vorbereiten müssen.
Genau neun Minuten nachdem der offizielle Text der Presseverlautbarung aus dem Bundespräsidialamt getickert ist, beginnen alle Telefone im Büro der ISAT-Gruppe gleichzeitig zu klingeln.
In den folgenden Stunden wird die Telefonbereitschaft im >Weißen Haus< in Düsseldorf vollauf damit beschäftigt sein, die aufgeregten Stimmen am anderen Ende der Leitung mit immer wieder den gleichen Antworten abzufertigen: »Ja, die Meldung ist uns bekannt. Nein, wir sind noch nicht weiter in unseren Ermittlungen. Ja, wir wissen, dass es nur noch 32 Tage bis zum Staatsbesuch sind!«
»Es geht besser mit ihr, als ich gedacht habe. Sie ist zwar manchmal wirklich ziemlich ... na, wie soll ich sagen ... formell ist wohl der richtige Ausdruck dafür!« Zufrieden nickt Ganser vor sich hin, hauptsächlich, weil er nun doch das richtige Wort gefunden hat.
Hauptkommissar Vitus H. Benedict kommt erst in der zweiten Wochenhälfte dazu, Gernot Ganser mal alleine im Präsidium abzupassen. Ganser war gerade dabei, die Düsseldorf-Karte an der Wand mit bunten Nadeln zu verzieren, als der Leiter des 1. K eintrat, um nach der Entwicklung der Spritzer-Ermittlungen im allgemeinen und der Arbeitsbeziehungen zu Kommissarin Leiden-Oster im Besonderen zu fragen.
In den ersten Minuten ihrer Begegnung vermied der Kriminalhauptmeister zwar taktvoll, aber auch reichlich ungeschickt das zwischen ihnen vereinbarte Du. Schließlich wurde es Benedict dann zu bunt, und mit einem »jetzt erzähl mal, wie weit du bis heute gekommen bist, Gernot!«, hatte er die Luft aus der Sache herausgenommen.
Als hätte Ganser nur darauf gewartet. »Gut, Chef! An deinem Berliner Wochenende haben Maria und ich hier in aller Ruhe angefangen, die ganzen Spritzer-Fälle aktenmäßig durchzugehen. Wir sind aber bis Montag nur bis Fall 9 durchgekommen. Satz für Satz der Opfervernehmungen haben wir systematisch durchgekaut. Desgleichen die Einvernahmen möglicher Verdächtiger. Da sind wir dann zwar auf ein paar nicht ganz sauber abrecherchierte Alibis gestoßen, aber die haben wir bis heute fast alle klären können.«
»Fast alle?«
»Ja, eins muss noch mal quergecheckt werden. Doemges und Läppert sind in dieser Sache gerade draußen!«
»Und ... wo ist die MLO ... äh ... Ihre... deine Kollegin jetzt?«
Ganser kann sich das Grinsen nicht ganz verkneifen. »Die? Die ... musste mal zum Arzt.«
»Hier im Sanitätsbereich?«
»Nein ... zum Frauenarzt.«
Der Hauptkommissar räuspert sich. Er wirkt aus irgendwelchen Gründen verlegen. »Also seid ihr noch nicht viel weiter!«, konstatiert er dann.
Ganser rollt eine Zigarette mit der flachen Hand auf der Schreibtischplatte hin und her und steckt sie nach einer Weile zwischen die Lippen, ohne sie jedoch anzuzünden. »Nein, würde ich so nicht sagen wollen, Chef. Wir haben schon einige Ermittlungsfehler korrigiert und können jetzt sicher sein, jedenfalls ziemlich sicher, dass uns bis einschließlich Fall neun kein dicker Hund durch die Lappen gegangen ist! Bei dem Durcheinander, das hier während der Ermittlungen geherrscht hat, würde ich das doch schon als Fortschritt bezeichnen. Womit ich keine Kritik an irgendwelchen Personen geäußert haben möchte. Dass du mich recht verstehst, Chef!«
Der winkt spöttisch ab.
»Lass gut sein, Gernot. Brich dir keine Verzierung ab. Und wie soll das weitergehen?«
»Na, wir werden uns auch an diesem Wochenende über die Ermittlungsakten hermachen und hoffen, dass wir bis Montag durch sein werden!«
»Und wenn auf diese Weise nichts herauskommt?«
Der Kriminalhauptmeister stützt das Kinn nachdenklich auf die linke Hand und zerkrümelt mit der anderen die kalte Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Er starrt bedrückt auf das weiß-braune Gebrösel vor sich. »Dann müssen wir eben warten. Auf einen neuen Anschlag, auf einen Hinweis von Leuten, auf einen Tipp aus der Szene. Oder wir selbst provozieren ihn, dann macht er vielleicht einen Fehler. Maria hat da so’n paar interessante Ideen dazu.«
»Nein!«, sagt Benedict fast heftig in sehr bestimmtem Tonfall. »Auf keinen Fall, Gernot! Doemges hat mir von diesen Ideen schon berichtet. Dazu gebe ich keine Einwilligung. Versteh mich nicht falsch, Gernot, ich bin nicht prinzipiell gegen diese Form von Einsätzen! Nur, was die Kollegin Leiden-Oster betrifft, bin ich damit nicht einverstanden! Ich habe kein gutes Gefühl. Ich weiß nicht ... irgendwas warnt mich bei dieser Sache. Und du musst zugeben, Meister Gernot, dass es in unserem Beruf manchmal gut ist, auf solche Ahnungen zu hören, oder?«
Abwägend nickt der Jüngere mit dem Kopf. »Vielleicht hast du ja recht, Chef. Ich will dir da nicht widersprechen. Und schließlich ... du trägst die Verantwortung!«
»So ist es«, schließt der Hauptkommissar das Thema kurz ab, um dann mit Blick auf die buntgespickte Stadtkarte an der Wand in einem anderen Ton zu fragen: »Und was gibt das, wenn es fertig ist?«
»Also, mir ist da eine Idee gekommen. Vielleicht ist das von Bedeutung. Ich habe sämtliche Punkte, an denen der Spritzer zugeschlagen hat, mit einer roten Nadel markiert.«
»Wofür stehen die schwarze und die grüne Nadel?«
»Anschlag mit Todesfolge schwarz und der abgewehrte Anschlag Am Schönekamp grün. Logisch, nicht?«
»Zumindest sehr symbolhaft«, brummt Benedict. »Ja, und weiter?« Nervös klappt er den Deckel seiner Taschenuhr auf und zu.
»Neunzehn Fälle, die wir ermittlungsmäßig voll bearbeiten. Weitere zwanzig, bei denen sich die Opfer nach unserem Aufruf anonym gemeldet haben. Also neununddreißig Nadeln, die sich mehr oder weniger gleichmäßig über das Stadtgebiet von Düsseldorf verteilen. Bis auf je zwei in Hilden und Ratingen. Die anderen fünfunddreißig: hier Hellerhof, Garath, Holthausen, Wersten, Himmelgeist, Heerdt, Oberkassel, Unterrath, Derendorf, Mörsenbroich, Grafenberg, Eller, Vennhausen, Unterbach und sieben Fälle im Bereich Stadtmitte, Bilk und Flingern!«
»Ja. Und?«
»Pass auf, Chef. Stell dich mal zwei, drei Meter von der Karte weg. Wenn du jetzt mal nicht ganz so genau über die Karte wegsiehst, kommt es dir da nicht auch so vor, als blieben zwei Gegenden ausgespart?«
Benedict,