»Hier Berlin. Ankauf vereinbarungsgemäß getätigt. Lufthansa steigend!«
*
»Bist du wirklich in Ordnung, Kommissar? Du siehst käseweiß aus!«
Auch O’Connell äußert sich besorgt: »Vielleicht gehst du besser ins Hotel und legst dich hin. Kannst ja später nachkommen!«
»Ja, wenn du dich besser fühlst!«
»Ach, hört auf! Das ist nur ... nur eine Magenverstimmung. Vielleicht die Currywurst. Oder von der Kälte. Ein, zwei Körnchen, und es geht wieder besser!«
In den Mienen der drei am Tisch zeigen sich Zweifel, aber nach dem zweiten Doppelkorn ist die Rebellion in Benedicts Eingeweiden zu einer halbwegs friedlichen Straßendemonstration abgeklungen. Zum Glück lassen sie ihn jetzt für eine Weile in Ruhe, um sich auf die Speisekarte zu konzentrieren.
Auf seinem Zimmer war Benedict die Zeit bis zum Essen zu lang geworden. Es gibt für ihn kaum Unangenehmeres, als mit knurrendem Magen auf einen späten Essenstermin warten zu müssen. Um halb sieben hatte er sich also die Schuhe angezogen und die Hotelpension zu einem größeren Spaziergang verlassen. Immer in der Hoffnung, vielleicht seinen drei Kollegen zu begegnen, um die Essensverabredung doch noch vorverlegen zu können, war er erst am Ku’dorf vorbei in die Lietzenburger und dann die Fasanenstraße wieder Richtung Ku’damm getrottet.
Auf dem Ku’damm tobte trotz der abendlichen Herbstkälte das Leben. Während Vitus H. Benedict seine Füße zu spüren begann und immer öfter eines der gleißenden Schaufenster als Ausruhvorwand akzeptierte, stellte er Vergleiche zu seiner Düsseldorfer Kö an. Die Mischung hier war bunter, musste er zugeben. Es schien nicht ganz so exklusiv. Dafür sorgte sicher auch der hohe Anteil der westdeutschen Touristen, die für unaufhörlichen Nachschub an Provinztönen sorgten. Sicher, auch hier gab es die aufgetakelten Selbstdarsteller und -darstellerinnen, die wie auf der Kö ihr im Styling-Salon gekauftes Image zur Schau trugen. Aber hier schienen sie nur der glitzernde Strass an großen buntgewirkten Hosenträgern zu sein. Nicht mehr. Exotische Vögel in einem auch so schon bunten, laut zwitschernden Vogelschwarm.
Ähnlich sah er auch die Geschäfte. Hier gab es die gleichen Namen mit dem Klang der großen weiten Welt. Dennoch wirkten sie hier in der Nachbarschaft von Straßenverkäufern und Souvenir-Shops mit erschwinglichem Kitsch nicht so elitär und exklusiv protzig wie auf dem rheinischen Showsteg, wo er gewöhnlich seinen Tee zu >nehmen< pflegte.
Verglich er den Ku’damm aber mit der nur einige S-Bahn-Stationen entfernt liegenden Friedrichstraße oder dem drei Trabistunden entfernten Greifswald gar ... es kam eben immer auf die Perspektive an.
Benedict überquerte den Ku’damm, auf dem der Verkehr tobte, und schlenderte auf der anderen Straßenseite Richtung Bahnhof Zoo. An den erleuchteten Vitrinen, den vorgeschobenen Verkaufsposten, lehnten Frauengestalten mit auffordernden Blicken. Miniröcke unter Pelzjacken, Ledernes und glänzende Accessoires, die die angebotene Ware im Lichterschein zur Geltung bringen sollten. »Naa, was ist denn mit uns beiden Hübschen?«
Benedict beobachtete interessiert das Verkaufsgespräch des grellen Mädchens in schwarzem Lack. Dann war der Abschluss getätigt. Sie hing sich kokett in den Arm des älteren Herrn mit dem Fotoapparat ein und führte ihn zielsicher zu einem Hauseingang, der mit vielen Pensionsschildern verziert war.
»Kommst du mit mir hoch, Süßer? Bei mir ist es schön warm. Ich mach’ dir’s auch ganz toll!«
Das ungesund-weiße Gesicht mit den mattroten Haaren war ganz plötzlich neben ihm. Eine knochige Hand mit Sommersprossen fasste seinen Arm. Stumpfgrüne Augen sahen ihn fast flehend an.
Diese Stimme. Diese Augen. Benedict stand einen Moment unschlüssig da und überlegte.
Die Frau mit den verlebten Gesichtszügen schien es in ihrem Sinne zu deuten. »Nur 100 Mark! Nackt! Und ohne Präser!« Der Griff der sehnigen Hand wurde fordernder, zerrender.
Benedict schüttelte sie unwillig ab. Er blieb aber immer noch stehen und starrte im Lichte der Vitrine auf dieses kaputte Gesicht. Bemühte sich, verdrängte Erinnerungen wachzurufen. Frankfurt 1970. Ein neues Mädchen in der auseinanderfallenden Kommune. Sehr jung, gerade 18 damals. Rote Haare, grüne Augen. Mit einem Geheimnis. Ganz weiße Haut. Aus ihrem Zimmer kam der Duft von Kräutern und indischen Ölen. Eine undurchsichtige Hexe. Von Anfang an. Schien keiner politischen Gruppierung zugehörig. Eines Abends kam sie unvermittelt in sein Zimmer. Bis zu dem Tag hatten sie kaum zehn Worte miteinander gewechselt. »Kann ich bei dir fernsehen?«, fragte sie und setzte sich sofort auf einen Sessel. Bis zum Programmende waren das ihre einzigen Worte. Dann: »Meinst du, das Bett ist breit genug für uns zwei?« Der damals knapp dreißigjährige Benedict nickte überrumpelt mit dem Kopf, und sie zog ihr dunkelgrünes Kleid aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Einen sehr weißen Mädchenkörper mit kleinen Brüsten hatte er aus verstohlenen Augenwinkeln wahrgenommen. Auch im Bett war sie sehr ruhig. Mit federzarten, liebevollen Bewegungen nahm ihr Körper seine verwirrte Liebe entgegen.
Am nächsten Morgen verließ sie genauso ruhig sein Zimmer, den Jasmin-Duft ihres Körpers und einen völlig aufgewühlten Benedict zurücklassend.
In den darauffolgenden Wochen erschien ihm das Ganze immer unwirklicher. Mit keinem Wort, keiner Geste stellte sie eine Verbindung zu dieser Nacht her. Seinen Versuchen, zu ihr eine Beziehung aufzubauen, widersetzte sie sich mit Gleichgültigkeit. Sie ließ sich von ihm weder in die Uni begleiten, noch akzeptierte sie seine sonstigen Einladungen. Verletzt und deprimiert taumelte er mit seinen Gefühlen ins Leere.
Dann, nach Wochen, klopfte sie wieder an einem Abend an seine Zimmertür. »Willst du heute mit mir schlafen?«
»Raus! Hau bloß ab! Lass mich in Ruhe!«, brüllte er in seinem verletzten Stolz. Die Nacht über wälzte er sich verärgert über sich selbst im Bett herum und kämpfte mit den widersprüchlichsten Gefühlen.
Damit war die Sache beendet. Nur langsam und erst viel später wurde ihm halbwegs klar, dass dieses Mädchen zu einer anderen, neuen Frauengeneration gehörte. Einer Generation, die versuchsweise selber bestimmen wollte, wie die Art ihrer Beziehungen zum anderen Geschlecht verlaufen sollte.
»Helga? Bist du die Helga?«
Das ausgezehrte Gesicht vor ihm schien an Leben zu gewinnen. In die harten grünen Augen sprangen Funken abwartenden Interesses. Auf ihrem Gesicht zeigte sich Neugier. Aber der Schleier ständigen Misstrauens hing wie ein nebliger Vorhang über den Augen.
»Jaaa?«
»Frankfurt. Untermainanlage. SDS. Ich bin Benny!«
In dem zerstörten Frauengesicht zeichnete sich die Anstrengung ab, wenigstens eine flüchtige Erinnerung hervorzugraben. Aber erneut herabfallende Mundwinkel machten ihr Widerstreben deutlich, ihre Auflehnung gegen das qualvolle Erinnern an eine Zeit, in der noch alles möglich war. Dann sagte die lethargische Stimme, in der nichts mehr an jene Nacht zärtlich-hexenhaften Liebesgeflüsters anklang: »Okay, vergiss es, Alter! Kannst du mir wenigstens einen Hunderter geben, wenn du schon nicht mit mir bumsen willst? Für Miete ... oder so?«
Benedict brauchte nicht weiter in dieses kaputte Gesicht, auf diesen zerschlissenen Körper zu starren. Er wusste, wofür sie das Geld nötig hatte. Heroin wahrscheinlich. Trotzdem noch ein hilfloser Versuch.
»Können wir uns nicht hier in ein Café setzen? Ein bisschen reden? Und vielleicht kann ich dir ja ...?«
»Und wer verdient in der Zwischenzeit die Kohlen für die ... Miete?«
Deprimiert und erleichtert nestelte Benedict zwei knisternde Scheine heraus und schob sie zwischen ihre kalten Finger. »Na, mach’s gut, Alter!«
Dann war die Gestalt in einem der Hauseingänge verschwunden gewesen.
Schwer fällt ihm an diesem Sonntagmorgen das Aufstehen. Die verlorene Winterzeitstunde