Ich mochte die Idee, dass die Earwigs Perücken [engl.: wigs] trugen. Schien logisch zu sein. Und so wurden wir die Earwigs, für uns ein exzellenter Rock’n’Roll-Name.
Dann war es so weit. Endlich konnte der als Überraschung geplante Lettermen-Talentwettbewerb starten. Es war mal wieder ein typisch heißer Abend im „Cafetorium“ der Cortez, einer Kombination aus Cafeteria und Auditorium. Vom Backstage-Bereich aus beobachteten wir nervös die Auftritte der von purpurnen Spotlights angestrahlten Gruppen. In jenem Jahr stand ein Hauch von internationaler Musik im Mittelpunkt. Man führte einen philippinischen Tanz auf sowie Musik aus Spanien und Frankreich. Auch drei Lehrer versammelten sich unter dem Banner der Singer/Songwriter und gaben einen Anti-Atombomben-Song zum Besten.
Schließlich fiel der Vorhang, woraufhin Phil Wheeler in aller Eile das Schlagzeug aufbaute. Als sich Vince, John und ich die Perücken und die Sonnenbrillen aufsetzten, hörten wir drei Mädchen vom Pep-Club, die sich einen abkicherten und mit den Fingern auf uns zeigten. Vince schnappte sich die Ukulele; John und ich posierten mit den Gitarren.
„Und nun kommt eine besondere Überraschung“, hörte ich die Ansage durch das Mikrofon. Wir klopften die Füße im Takt des ersten Songs. „Direkt aus Cesspool, England! The Earwigs!“
Der Vorhang öffnete sich, und wir starrten in ein Meer verblüffter Gesichter. John Tatum unterstützte Glen bei seinem brettharten Gitarrenspiel, und alle sangen die umgeschriebenen Texte: „Listen to my track shoes/Stomping all over you …“
Über die Strahler der Direktbeleuchtung hinweg erkannte ich die Gesichter von Freunden, Lehrern und Eltern, die sich alle vor Lachen bogen. Sogar der Hund des Hausmeisters schien zu lachen.
In der Hochstimmung des Augenblicks dachten wir nicht im Entferntesten daran, dämlich auszusehen. Die lauten Gitarren, das Schlagzeug und unsere Stimmen donnerten über die Lautsprecher und elektrifizierten uns emotional, ein unglaubliches, kaum zu beschreibendes Gefühl.
Die ganze Band rockte, stampfte mit den Füßen auf und sprang durch die Gegend, als wüssten wir, wie man das macht. Die Zuschauer da draußen waren sprachlos, aber auch gut unterhalten.
Die Beatles machten am Ende jedes Konzerts eine tiefe Verbeugung, eine Art Markenzeichen. Als Earwigs verwandelten wir das natürlich in eine alberne Geste.
Der Vorhang schloss sich. Von draußen hörte man die tobenden und applaudierenden Zuschauer aus dem Cafetorium. Wir sahen uns schockiert an. Diese Ekstase – die hatten wir ausgelöst. Das Ganze war viel besser gelaufen, als man sich je hätte vorstellen können.
Mrs. Axelrod, unsere Chemie-Lehrerin, huschte auf uns zu und schwärmte: „Ihr Jungs müsstet in der Ed Sullivan Show sein!“
Dieser Ohrwurm hatte uns gebissen, mit dem Fieber des Entertainments infiziert und klammerte sich nun am Gehirn fest. Wie das „todbringende“ Insekt setzte er sich dort für alle Ewigkeit fest.
Unsere verruchte Reputation überdauerte die nächsten Wochen. Natürlich bliesen wir den Auftritt durch eine Titelstory in der nächsten Ausgabe des Tip Sheet auf, ergänzt durch eine gefälschte/humorvolle Story über die frühen Tage in Cesspool, Großbritannien.
Die Popularität der Earwigs schoss schon bald zu den Sternen. Football-Spieler mussten mürrisch anerkennen, dass wir nun zur selben Attraktivitäts-Spezies gehörten. Die Lehrer begrüßten uns mit einem anerkennenden Nicken, doch es gab noch einen größeren Schoooock: Mädchen lächelten uns tatsächlich an!
Lächelnde Mädchen. Sie sind die hocheffektiven Atomkraftwerke, die jeden Rockmusiker mit Energie versorgen, für einen Stromstoß sorgen, der ihn vom Boden des Wohnzimmers zu höheren Gefilden katapultiert. „Das Mädchen da hinten – sie sah mich eben so nett an …“
Über Nacht waren wir berühmter geworden als das beliebte Automodell Edsel von Ford.
Doch Moment mal – wir waren doch gar keine richtige Band, oder doch? Vince und ich dachten da nicht lange nach. Klar waren wir eine richtige Band, verdammt noch mal. Auch John Speer wollte das Spielchen fortsetzen. Schönling Phil Wheeler muckte nicht in einer albernen Combo, um an Mädels zu kommen, doch fürs Erste wollte er ebenfalls bei der Fake-Truppe mitmachen, einfach so aus Spaß. Allerdings mussten wir Einiges an Überzeugungsarbeit leisten, um die beiden „echten“ Musiker Glen und John – „das coole Duo“ – zum Einstieg in eine Täuscherband zu überreden. Nach der Schule ging ich auf Glen zu und fragte, ob er mitmachen wolle.
„Na, klar! Willst du morgen zu mir kommen? Wir können einige Platten anhören. Bring doch deine Gitarre mit, und ich zeige dir einige Akkorde.“
Am nächsten Tag sprang ich aufs Fahrrad und folgte Glens auf einen Zettel gekritzelter Wegbeschreibung zu seinem Haus. Es lag wie auch mein Zuhause in einer Mittelschicht-Siedlung, gekennzeichnet durch einige einstöckige Beton-Blockhäuser, und war limettengrün angestrichen.
Ich klingelte. Nach langem Warten öffnete eine Frau, zweifellos Glens Mutter. Sie war dünn, wirkte jedoch keineswegs gebrechlich. Ihre Mimik vermittelte den unmissverständlichen Eindruck, dass sie keine Albernheiten durchgehen ließ. Mit meiner besten Sonntags-Stimme fragte ich säuselnd nach Glen.
„Komm rein“, meinte sie. „Er ist in seinem Zimmer.“ Sie deutete auf das Ende des Flurs und verschwand in der Küche. Ich hatte das Gefühl, gerade einem Bewährungshelfer aus einem B-Movie über missratene Jugendliche begegnet zu sein, und klopfte schnell an Glens Tür. Aus der Küche hörte ich Mrs. Buxtons Stimme: „Geh rein. Er ist da.“
Langsam öffnete ich die Tür. Durch die mit Aluminiumfolie abgedeckten Fenster in dem Zimmer fielen nur stecknadelgroße Sonnenstrahlen. Ich stolperte über das Kabel einer Tischlampe. Die schwache, orange angemalte Glühbirne erleuchtete den Raum nur spärlich und sorgte für eine Begräbnis-ähnliche Atmosphäre. Mich beschlich das Gefühl, wieder in der Dunkelkammer der Schule zu stehen. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute ich mich um. Was war er wohl für ein Höhlenbewohner?
Auf dem Boden lagen verstreut Ausgaben der TV Issue, ein Gitarrenkoffer und die Überreste verschiedener Elektrogeräte. Dann entdeckte ich Glens nackte Füße, die unter der Bettdecke hervorlugten. Ich blickte von dem in das Laken gehüllten Körper zu den an der Wand angebrachten Fotos von Ozzie und Harriet aus der gleichnamigen Sitcom, die nur provisorisch befestigt worden waren. Dort hing zudem ein kleineres Foto von Eddie Haskell, dem Sidekick aus Erwachsen müsste man sein. Auf Glens Gitarrenkoffer ruhte ein geöffnetes Chet-Atkins-Songbook. Auch andere Bücher lagen herum, darunter eine Biografie von W.C. Fields und eine abgenutzte Ausgabe von Der Fänger im Roggen. Auf einigen Gegenständen klebte noch das Preisschild. Später erfuhr ich den Grund dafür, denn Glen war beim Einkaufsbummel ein böser Flitzefinger.
„Glen“, versuchte ich ihn zu wecken. „Es ist Nachmittag. Wollen wir ein paar Platten hören?“
„Ohhh-ahh“, hörte ich als Antwort unter der Bettdecke. „Hau ab.“
Nach einiger Zeit der Diskussion auf höchstem intellektuellen Niveau quälte er sich aus dem Bett und latschte wie ein Zombie in die Küche. Ein Tasse schwarzen Kaffees erweckte ihn langsam zum Leben.
Nachdem Glen den Gitarrenkoffer geöffnet hatte, erhöhte sich seine Aufmerksamkeit rapide. Mit großer Liebe legte er seine Hände auf die in burgunderfarbenem Samt ruhende Epiphone. Das Stimmen des Instruments brachte mich auf eine wichtige Frage. „Welche Note ist das?“
Er schaute hoch, lächelte und erklärte mir, was er da gerade so anstellte. Seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert, denn er wirkte ganz und gar nicht mehr blass. Nun schimmerte ein gesundes und wunderschönes Rot auf seinem Antlitz. Der Kerl liebte Musik. Mich überkam das Gefühl, einen zutiefst gläubigen Menschen in einem erhabenen religiösen Moment zu beobachten.
Er fragte mich, wo ich meine Gitarre hätte. Ich erklärte ihm, dass ich mit dem Fahrrad gekommen sei, woraufhin er mit einem Achselzucken reagierte und danach einen Plattenstapel durchwühlte.
Das war also die