Wir reden hier über den Teenager namens Vince und nicht über die bedrohliche Bühnenrolle namens Alice, also über den spindeldürren Jungen und sein entspanntes, aber trotzdem energisches Gebaren, den witzigen Typen mit einem unbeschränkten Repertoire an Storys.
In dem unaufhörlichen Schwall wundervoll übertriebener Geschichten wurzelt ein Teil meiner großen Sympathie für ihn. In dieser Fähigkeit liegt der Grund, warum er die Welt mit seinem Charme verzauberte.
Vince’ offenes Wesen und seine allgemeine Zugänglichkeit verstärkten unser enges Verhältnis. Wir waren beste Freunde. Uns verband das gemeinsame Interesse am Surrealismus und der Pop Art. Dadurch wirkten Vince und ich sogar so untrennbar, dass die Leute kaum über uns als Individuen sprachen, sondern uns als Gemeinschaft anerkannten.
Auch die Mädchen mochten uns, obwohl Vince und ich hinsichtlich des weiblichen Geschlechts verdammt schüchtern waren. Meine Wenigkeit verhielt sich damals mitleidserregend verklemmt. Als introvertierter Mensch schloss ich Freundschaften über andere. Dennoch wurde ich in die Kategorie „Netteste Persönlichkeit“ gewählt und stehe seitdem im Cortez-Highschool-Jahrbuch 1965. Allerdings fiel es mir schwer, das nachzuvollziehen, denn ich fühlte mich nie so beliebt. Ich bin mir sicher, dass der Football-Quarterback sich seitdem vor Verwunderung immer noch am Helm kratzt.
Im Kunstkurs schmiedeten Vince und ich Pläne für die Revolution. Wir saßen weit hinten und redeten leise über Künstler und Kunststile. Eines Tages zeigte mir Vince das berühmte Magritte-Gemälde von dem Geschäftsmann, dessen Gesicht von einem Apfel verdeckt wird. Jetzt ist mir klar, wie sehr das Werk Vince’ Stil der Darstellung schräger Charakter-Porträts beeinflusste. Doch es war auch gut möglich, dass wir uns in der nächsten Sekunde über den neusten Hit unterhielten, wie zum Beispiel „Surfin’ Safari“.
Ich stand auf Hot Rods, während Vince sportliche Autos favorisierte wie Volkswagens Karmannn Ghia. Egal, welches Traumauto man fahren würde, wir stimmten in einem Punkt überein: Auf dem Beifahrersitz musste Brigitte Bardot sitzen und diese spitz zulaufende Harlekin-Sonnenbrille sowie ein mit Punkten getupftes Kleid tragen, wobei ihre blonden Haare in der lauen Brise wehten.
Vince’ Redeschwall war von Fernsehreferenzen durchzogen. Er schaute alles: The Steve Allen Show, Twilight Zone – Unwahrscheinliche Geschichten, The Ernie Kovacs Show, Peter Gunn, die Serie Die Unbestechlichen, Ozzie and Harriet, The Andy Griffith Show, Meine drei Söhne und die Dick Van Dyke Show. Wenn das Programm um 22 Uhr endete, kam zuerst das Testbild eines Indianerhäuptlings, wonach man auf den verschneiten Bildschirm starrte. Vince behauptete, er sehe sich sogar das Testbild an.
An besagtem Tag im Kunstkurs wurden wir jäh in die Realität zurückbefördert, da wir die hinter uns lauernde Mrs. Sloan bemerkten.
„Ich hoffe, ich störe euch beide nicht“, grinste sie und stöpselte dabei einen tragbaren Plattenspieler ein. „Ihr beide denkt, ihr seid so hip. Ich möchte, dass ihr ruhig sitzt – falls das möglich ist – und euch das hier anhört.“
Sie reichte Vince ein Cover, auf dem ein Bohème-Pärchen mitten über die Straße einer verschneiten Stadt schlenderte. Der Typ schien gerade eine Runde „Taschen-Billard“ zu spielen, während sich das Mädchen bei ihm untergehakt hatte. Der Titel des Albums lautete The Freewheelin’ Bob Dylan.
Mrs. Sloan setzte die Nadel auf die Platte auf, und wir hörten eine angeschlagene Akustik-Gitarre und eine froschähnliche Stimme, die sozial bedeutende Fragen ansprach.
Wir hatten niemals zuvor so eine Ernsthaftigkeit in einem Song wahrgenommen. Vince lachte über die Stimme des Sängers, gab jedoch zu, dass es sich anscheinend um etwas Wichtiges handle.
Außerdem mussten wir uns geschlagen geben, denn unsere Kunstlehrerin hatte uns in puncto Coolness übertrumpft.
Nach all den Jahren trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz, dass diese Frau uns aus der Balance warf und auf einen recht eigentümlichen und wirren Pfad lenkte.
Mrs. Sloan war unbarmherzig und direkt. So eine Frau gab ihren Schülern keinen wohlwollenden und aufmunternden Klaps auf den Hinterkopf. Sie zeigte uns in aller Deutlichkeit, dass wir nicht unser volles Potenzial ausschöpften. Möglicherweise ließ sie sich gar nicht von unseren Stunts beeindrucken. Einmal kehrte Vince von der Toilette zurück, hatte sich von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier eingewickelt und wankte wie eine unheimliche Mumie in die Klasse, die in schallendes Gelächter ausbrach. Mrs. Sloan nahm sich in aller Seelenruhe eine auf dem Tisch stehende Karaffe mit Eiswasser, schüttete sie ihm über den Kopf und meinte lapidar: „Touché!“
Den Rest des Tages fielen Streifen nassen Toilettenpapiers von Vince ab, der damit seinen Ruf als schick gekleideter Junge eingebüßt hatte. Aber auch Mrs. Sloan brachte einige Stunts. Eines Tages präsentierte sie der Klasse eine schwarze Tasche. „Stellt euch vor, ihr seid stockblind“, sagte sie und erklärte uns, wir sollten in die Tasche fassen, den Inhalt ertasten und dann unsere Empfindungen in einer Zeichnung ausdrücken.
Vince tastete sich behutsam vor und riss die Hand blitzschnell zurück: „Wow, was ist das?“, fragte er angeekelt. Er streckte die Hand von sich ab, als sei sie kontaminiert.
Ich starrte dann auf meine Hand, die in der Tasche verschwand. Booaah! Was sich auch immer darin befand, war verdammt eklig. Es fühlte sich wie getrocknetes Leder an, hatte ein verdrehtes Rückgrat, einen Schwanz und einen Kopf mit messerscharfen Zähnen.
Die Schüler ließen einer nach dem anderen das fiese Ritual über sich ergehen, während Mrs. Sloan wie die sprichwörtliche Cheshire-Katze grinsend auf dem Stuhl thronte.
Erst am nächsten Tag – wir hatte alle unsere Interpretationen auf Papier festgehalten – zog sie das Objekt unseres Horrors hervor.
„Es ist ein getrockneter Teufelsfisch aus dem Golf von Mexiko“, erklärte sie mit einem strahlenden Gesichtsausdruck und konfrontierte uns mit dem labberigen Ding.
Diane Holloways Arm schoss in die Höhe: „Darf ich mir die Hände waschen?“, bettelte sie. Von einer Sekunde auf die andere standen alle Mädchen am Handwaschbecken. Glauben Sie, dass dieses Experiment spurlos an Vince und mir vorüberging? Glauben Sie das tatsächlich?
Vince mochte das Zeichnen. Seine Charakter-Skizzen stellten eine Gemengelage aus Magritte, Peter Gunn und dem Mad-Magazin dar. Die Figuren waren stark stilisiert und ähnelten ihm häufig. Manchmal trat er als Beatnik auf, woraufhin man beinahe einen begleitenden Bongo-Rhythmus vor seinem „geistigen Ohr“ hörte.
Meine eigenen Bilder zeichneten sich durch eine großzügige farbige Pinselführung aus. Meist erkannte man kein konkretes Thema. Ich mochte es, mir freien Lauf zu lassen. Die Auswüchse meiner künstlerischen Orgasmen glichen einer Explosion in einer Schal-Fabrik.
Mrs. Sloans Malstil war auf eine bestimmte Art sehr lebendig, und so ließ ich mich von ihr denn anleiten. Eines Tages sah ich sie vor meiner Leinwand stehen. In nervenaufreibender Stille rieb sie sich mit der Hand am Kinn. Schließlich drehte sie sich um und urteilte: „Wenn alles schreit, schreit nichts mehr.“
Der Kommentar verwirrte mich einige Tage lang. Doch als mein Pinsel das nächste Mal über die Leinwand strich, erlaubte ich den Schreien Stille zum Verklingen.
Das sind die kleinen Lektionen, die man im Leben lernt. Den Ratschlag übertrugen Vince und ich später auf Songstrukturen, die Reihenfolge der Song auf den Alben, das Live-Programm und die Inszenierung der Bühnenpräsentation.
Ein weiteres Element von Mrs. Sloans Weisheit leitete sich von ihrer Methode ab, einen neuen und möglichst unvoreingenommenen Blickwinkel bei einer problematischen Bildkomposition einzunehmen. „Haltet das Bild vor einen Spiegel“, erklärte sie. „Manchmal zeigt sich dann