Das war eine zusätzliche Lektion fürs Leben, die wir auch in der Welt der Musik anwendeten. Wenn man einen Song schreibt und er problematisch anmutet oder man nicht weiterkommt, sollte man ihn auf einem anderen Instrument spielen, durch einen winzigen Lautsprecher plärren lassen, ihn in umgekehrter Harmoniefolge testen und ihn dann mit unvoreingenommenen Ohren hören.
In jenem Jahr beeinflusste der Film West Side Story den Kleidungsstil von Vince und mir. Wir legten uns weiße Sneaker zu und verschmierten sie mit Dreck, als hätten wir entweder bei den Sharks oder den Jets einsteigen wollen. Eines Nachts versteckten wir uns hinter einem Gebüsch am Ende meines Blocks. Als sich ein Auto näherte, sprangen wir hervor und täuschten eine Schlägerei vor. Der Wagen fuhr mit schneller Geschwindigkeit davon, und wir ließen lachend die Handknöchel knacken, überzeugt, dass unsere kleine Aufführung den Fahrer zu Tode geängstigt hatte.
Kleine Streiche wie dieser zählten zu den Highlights unserer trostlosen Existenz. Wir waren keine kalifornischen Surfer. Unser Sexualleben beschränkte sich – mit etwas Glück – auf die Seiten des Playboy. Doch wir wussten, dass da draußen mehr war. Vince erkannte die Vorzeichen.
Die täglichen Gespräche ähnelten einem bunten Flohmarkt aus Popkultur-Ergüssen, vorgebracht mit fachwissenschaftlichen Termini, und Diskussionen zur Musik, wobei Letztere einen zunehmend höheren Stellenwert einnahmen.
Hinsichtlich der Musik hatte ich schon drei bedeutende Schlüsselerlebnisse hinter mir. An einem brütend heißen Tag mit fast 40 Grad Celsius in Phoenix, dem „Tal der Sonne“, wurden mir die Augen (und die Ohren) geöffnet. Ich saß zufrieden auf dem Balkon eines Kinos mit Klimaanlage, ließ mir das Popcorn schmecken und zog mir eine Doppelvorstellung von Peter Pan und Herkules und die Königin der Amazonen rein. Während der Pause schloss sich der rote Vorhang, und einige Typen bauten ein Schlagzeug und Verstärker auf der schmalen Bühne auf. Dann klopfte der Ansager gegen das Mikrofon.
„Und nun“, rief er, „präsentiert das Fox Theater voller Stolz (quiiiietsch – Rückkopplung!) Duane Eddy and the Rebels aus unser Stadt.“
Plötzlich füllte sich der Raum mit dem elektrifizierenden Sound des Twang-Meisters persönlich. Der Begriff „Twang“ wird immer benutzt, um Duane Eddys tiefen, mit einem Vibrato-Arm modulierten Sound zu beschreiben, kann aber nicht den mächtigen Donnersturm einfangen, den er mit Hits wie „Rebel Rouser“ und „Forty Miles Of Bad Road“ auf den Hörer losließ. Man muss wissen, dass das viele Jahre vor Acid Rock oder Heavy Metal stattfand. Duane Eddy war einer der ersten wichtigen Vertreter des brettharten und lustvollen Gitarren-Sounds. Musiker wie Duane Eddy, Link Wray und Bo Diddley legten schon früh das Fundament für kommende Musikergenerationen.
Duane Eddy – schon sein Name klang wie ein Gitarren-Lick – stolzierte von der einen auf die andere Seite der Bühne, während sein sich die Seele aus dem Leib spielender Saxophonist den entgegengesetzten Weg nahm. „Los, packt sie euch!“, brüllte der Drummer. „Go! Go! Go!“
Ein Junge auf der gegenüberliegenden Seite des Balkons krakeelte ein markerschütterndes „Hiiii-ya!“ Die Rebels rockten ihre drei Instrumental-Hits, winkten uns dann wie Helden zu und verschwanden hinter dem Vorhang.
Anschließend begann der Herkules-Film, mit all den Szenen von Muskelprotzen, die sich aus Ketten befreiten. Für mich hatte der Streifen keine Chance gegen die Echos der Twang-Gitarre, die immer noch in meinem nun erleuchteten Kopf hin- und herbangten. Was ich auch immer von dem Kinoabend erwartet hatte, war wie weggeblasen. Phoenix – Stadt der neuen Wege.
Doch ich hatte Musik schon vor dem Duane-Eddy-Konzert als ein großartiges Erlebnis wahrgenommen, das unbegrenzten Spaß versprach. Als kleiner Junge – damals wohnte ich noch in Creswell, Oregon – lauschte ich schon den Klängen meines Dads, der Familie und von Freunden, die in den Abendstunden musizierten. Sie liebten den alten, traditionellen Country, mit authentischer Geige und dem Gitarren-Picking, zu denen alle eine Art selbstgedichteter Texte sangen.
Man verstreute Salz über Großmutters Holzfußboden, damit die Schuhe beim Tanzen des Two Step ein kratzendes Geräusch hinterließen. Einige der Frauenzimmer runzelten die Stirn bei dem Gelage, doch als es später wurde, erkannte man mühelos, wer sich einige Schlückchen runtergespült hatte. Die Männer waren voll wie die Haubitzen und stritten sich darüber, wer den Frauen gerade schöne Augen machte. Ich fühlte mich wie gebannt.
Die Lust. Sie ist doch am wichtigsten, oder? Natürlich war Elvis der Anführer der Rock’n’Roll-Lüsternheit. Als Kind beobachtete ich meine Babysitterin, die jedes Mal unglaublich scharf wurde, wenn sie den King hörte. Ich erlebte das mit heruntergefallener Kinnlade. Meist tauchten dann ihre Freundinnen mit der neusten Scheibe auf, und sie tanzten den Dirty Bop mit wehenden Pudelröcken, diesen Faltenröcken mit einem aufgestickten „Pudel“.
Beim Dirty Bop wurden einige anzügliche Beckenbewegungen in die Choreographie integriert, woraufhin man ihn natürlich im ganzen Land zensierte. Von einem ortsansässigen Rowdy hatte ich eine interessante Geschichte gehört: Er polierte ständig seinen schwarzen 53er-Ford mit der gemalten Aufschrift „C.C. Rider“ auf dem Kotflügel. „Mädchen“, steckte er mir im vertraulichen Ton, „tragen keine Höschen beim Dirty Bop.“ Mit Stilaugen musste ich schleunigst herausfinden, ob das stimmte.
Bislang hatte ich all die Versuchungen nur lüstern aus der Ferne erlebt, aber dann geschah es: in der achten Klasse. Washington Elementary School. Ein Lehrer gab bekannt, dass die Zeit für den Spotlight Dance gekommen sei, der ersten Tanzveranstaltung für Teenager. Ich sollte ihn eröffnen, was mir einen verdammten Schock versetzte. Noch erstaunlicher war die Ankündigung, dass meine Tanzpartnerin eine nette junge Dame namens Sharon sein würde. Sharon? Die Sharon? Dank ihrer aufblühenden Figur hatte ich sie schon längst bemerkt. Sharon brachte die Keimdrüsen sämtlicher Jungen auf allen Schulfluren zum Überkochen.
Sie schwebte unter dem grellen Spotlight auf mich zu, presste ihre gottgegebenen Vorzüge an meine Brust und führte mich über den Tanzboden innerhalb eines Kreises aus Gaffern. Sie tanzte wesentlich langsamer als die Tempovorgabe durch die Musik.
„In The Still Of The Night“ von den Five Satins verzauberte mein Herz, während der reine Duft ihrer gestärkten Bluse mich paralysierte und in eine himmlischen Trance versetzte. Plötzlich wurde aus meinem Schlaffen ein Knallharter. Oh nein! Nicht das! Nicht hier! Und nicht jetzt!
Voller Verzweiflung versuchte ich an etwas anderes zu denken: Zum Beispiel an die Autounfälle in den Lehrfilmen des Automobilclubs. Als ich mich abplagte, das „Holz aus der Hölle“ niederzuringen, endete der Song. Die glorreiche Frau nahm den Arm von meiner Schulter, flüsterte ein „Dankeschön“ und ließ mich mit weichen Knien stehen. Langsam bemerkte ich das Starren der geifernden Freunde. So entstand also die Analogie Musik = Sexualkraft.
In der Rangfolge der Coolness lagen Langstreckenläufer weit abgeschlagen hinter Baseball-Spielern und Ringkämpfern. Doch John, Vince und ich lernten den Wert und die Vorzüge kennen, Teil eines Teams zu sein. Wir mühten uns mit den gleichen Qualen ab – zogen Kakteennadeln aus den Füßen, schwitzten ungemein, stanken wie die Hölle und übergaben uns sogar gemeinsam. Voller Stolz nannten wir uns „The Pack“.
Als Vince und John auch beim Tip Sheet mitmachten, war es nur normal, dass das Langstreckenteam redaktionell all die Anerkennung bekam, die es sich so mühevoll erkämpft hatte.
Trotzdem darf man uns nicht als Hochstapler bezeichnen. The Pack stellte einen Saison-Rekord von neun Siegen und keiner Niederlage auf. Wir gewannen die Division II Cross-Country Championships. Zum Ende der Saison kamen wir auf über 450 gelaufene Meilen. Und ich stellte sogar einen Rekord für den 20-Meilen-Lauf auf, der noch Jahre nach meinem Abgang unerreicht blieb.
Was als Nächstes geschah, ähnelt einem ekligen Highschool-Streich, doch durch das Ereignis kamen die Räder ins Rollen, die uns in die glorreiche Zeit und die Gefilde der Verrufenheit beförderten.
Dank unserer Heldentaten als Geländeläufer qualifizierten John, Vince und ich uns für die Aufnahme in den Lettermen’s Club. Die Mitgliedschaft in so einer prestigeträchtigen Organisation wurde keinesfalls automatisch gestattet. Wir waren also verdammt