Wofür aber dann, wollte Herr Kleinermann fast fragen, besann sich aber, denn es ging ja um theoretische Aspekte, um ein Verständnis, um eine Denkmöglichkeit, wie die Weltuhr ticken könnte.
Es wären gerade die eingefahrenen Denkgewohnheiten, die zum Unverständnis mit den wissenschaftlichen Ergebnissen führten. Das hatte er oft gelesen, ohne es richtig aufzunehmen. Doch diese Weisheit war aus dem Leben gegriffen, sie musste also stimmen. Sollte nicht die Praxis Richtschnur aller Theorie sein?
Na schön. Dann hatte er in seinem Verständnis etwas nachzuholen.
Sein Interesse an den ersten Augenblicken des Universums war etwas gesunken. Bloßes Geschwätz, reine Konstruktion, fand er; auf solche Weise könne man sich allerlei zusammenreimen und als Tatsachen verkaufen. Beziehungsweise auch die Realität auf sonst was zurückführen und annehmen, die neue Theorie sei zutreffend, weil die weiter bestehende Praxis das beweise. Hier stimmte etwas nicht.
Auch die Lichtgeschwindigkeit habe bei der Höllen-Geburt eine Rolle gespielt? Wie das? Licht gab es damals doch gar nicht. Oder war alles wieder nur eine Definitionsangelegenheit und hatte mit Licht konkret gar nichts zu tun?
Er hätte vielleicht doch nach dem Beginn der Zeit fragen sollen, das hätte Zeit gespart.
Ha, Zeit sparen. Was sollte das nun wieder heißen, wenn es die „eigentlich“ auch nicht gab? Sollte er vielleicht nochmals bei WISSENlive direct anfragen? Dazu hätte man allerdings konkrete Fragen stellen müssen, nicht mit einem Durcheinander kommen.
Nein. Es gab Bücher, es gab das kostenlose Internet und man hatte einen Kopf, das sollte reichen. Experten live nur in unlösbaren Fällen, nahm er sich vor.
Wie kam er jetzt überhaupt auf Zeit? Hatte er darüber nicht genug gelesen? Das Kapitel war doch abgeschlossen.
Offenbar hatte er nichts verstanden. Oder nichts behalten, was im Endeffekt aufs Gleiche hinauslief. Er versuchte, sich zu erinnern: Der Begriff war mehrdeutig. Wie alles, an dem die Menschen schon Jahrhunderte herumrätselten, die einen sagten ja, die andern nein. Die Zeit existiere als Erfahrung, ließe sich als objektive, selbständige Erscheinung aber nicht fassen.
Die Relativitätstheorie ließ Zeit nur in der unlösbaren Verbindung mit dem kosmischen Raum als Raumzeit gelten, die auch gegen Null gehen konnte. In der Quantentheorie kam die Zeit überhaupt nicht vor.
Beide Theorien seien hundertfach geprüft und hätten sich stets als übereinstimmend mit der Praxis erwiesen, worauf zahlreiche technische Anwendungen beruhten, sie wären aber miteinander absolut nicht vereinbar, hieß es.
Die Einführung des mathematischen Konstrukts einer „imaginären“ Zeit hatte die Diskussion um den Begriff endgültig und erfolgreicherfolglos beendet. Den Trick hatten jedoch nur wenige verstanden. Er, Kleinermann, gehörte nicht zu ihnen, und danach hatte er sich um kein Verständnis der Zeit mehr bemüht.
Doch jetzt schien es wiederum, als ob die Zeit sehr wohl als eigene physikalische Größe definierbar wäre, man müsse nur die richtigen Beziehungen der drei Grundgrößen: Gravitationskonstante, Lichtgeschwindigkeit und dem Wirkungsfaktor h zueinander finden.
Er war wieder interessiert. Diesmal suchte er gleich an der richtigen Stelle: Planckeinheiten.
Er staunte nicht schlecht; Zeit hatte sich in einen komplizierten mathematischen Ausdruck verwandelt. Man sollte die Wurzel aus dem Produkt G mal h durch c3 ziehen. Mathe war noch nie seine Stärke gewesen, aber vor dieser Aufgabe kapitulierte er gleich. Wie jemand daraus die Zahl 5,39116 x 10-44 Sekunden zaubern konnte, blieb ihm ein Rätsel. Er suchte im Internet.
Das sei die kleinste denkbare Zeiteinheit, nämlich die Dauer, die das Licht zum Durcheilen der Planck-Länge brauche, die kleinste Zahl der Welt, die noch einen Sinn darstellen konnte. Er war beeindruckt.
Doch dann kamen ihm Zweifel; nicht am Ergebnis, aber die ganze Sache war ja reine Rechnerei, und zudem abseits vom Problem. Man hatte das kleinste Zeitintervall definiert, nicht die Zeit als solche. Wenn diese Angabe auch den ersten denkbaren Augenblick nach dem Urknall bezeichnen mochte, hieß das doch lediglich, dass ab hier das Zählen begann, und nicht, ob die Zeit eine unverrückbare, selbstständige Erscheinung sei. Zudem begann die Zeit entgegen jeder Erwartung nicht bei Null, sondern schon mit einem Zahlenwert? Sollten die verwendeten Konstanten überhaupt in den Beziehungen zueinanderstehen, wie sie hier verwendet wurden? Einen physikalischen Sinn konnte er darin nicht erkennen, außer dass die gewaltsame Operation am Ende formal die Einheit „Sekunde“ ergab.
Das sei alles Unsinn, meinte er.
Er suchte weiter. An anderer Stelle entdeckte er eine einfachere Gleichung für die elementare Zeit: Zeit wäre Planck-Länge durch Lichtgeschwindigkeit. Ohne Potenzen und Wurzel. Inhaltlich war das identisch, sah aber einfacher aus. Das entsprach der bekannten Formulierung aus dem Physikunterricht: Zeit ergibt sich aus der zurückgelegten Wegstrecke dividiert durch die Geschwindigkeit der Bewegung. Wer 100 km mit durchschnittlich 50 Sachen fahren will, braucht dazu 2 Stunden. Lernte man bereits in Klasse sieben.
Jetzt musste er doch lachen. Weiter war die Physik nicht gekommen? Zeit wäre nur über Geschwindigkeiten zu definieren? Das war ja ’n alter Hut. Dann wäre Zeit nur ein Begriff zur Beschreibung von Bewegungen oder Veränderungen? Das bedeutete doch: Wo keine Bewegung, da keine Zeit.
Die Planck-Einheiten erklärten nichts, fand er, sie zeigten lediglich die Denkbarkeit physikalischer Größen auf der elementarsten Stufe. Einen Realitätsanspruch hatten die Werte nicht, sie lagen Meilen weit außerhalb einer Überprüfbarkeit. Außerdem erweckten sie den Eindruck, als hätten unsere Begriffe aus der Mechanik, wie Masse, Länge oder Geschwindigkeit im Bereich des Wirkungsquantums eine Bedeutung.
Herr Kleinermann erschrak etwas bei dieser Bewertung. Er war ja keineswegs in der Lage, die Rolle der Planckgrößen für die wissenschaftliche Arbeit umfassend einzuschätzen. Aber wer dort tätig sei, sollte vielleicht auch mal an die Verwirrung denken, die das uferlose Mathematisieren bei manchem normalen Menschen auslösen konnte, fand er. Hätte ein Normalo kein Recht darauf, verstehen zu wollen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“? Sollte sein Interesse dabei weniger gelten als das der Spezialisten? War die Wissenschaft nicht für den Menschen gedacht?
Bei unvoreingenommener Betrachtung sei alles „ganz einfach“, wie jener Experte sich ausgedrückt hatte: Die Relativitätstheorie erforschte die kosmischen Verhältnisse, die Quantenmechanik die Elementarvorgänge im submikroskopischen Bereich, beides wären Aspekte des Naturgeschehens und könnten nur zusammen ein Bild abgeben.
Aber die Forscher waren offenbar gegen diese Sicht; die eine Art Mathematik passe nicht zur andern, nein, absolut nicht, der gegensätzliche Formelkram ließe sich nicht unter einen Hut bringen, und was man damit jeweils entschlüsselt habe, noch viel weniger. Es müsse eine neue Theorie her, eine, die alles erklären könne, eine, die zur Weltformel führe.
Daran glaubten offenbar selbst Nobelpreisträger ernsthaft.
So etwas gibt es nicht auf dieser Welt, sagte sich Herr Kleinermann; eine einzige Theorie sollte die ganze Welt erklären können?
Er redete mit sich selbst.
Änderten sich die Bedingungen, änderten sich auch die Erscheinungen. Die Stufen der Entwicklung sind jeweils neue Qualitäten. Das wusste er noch von früher.
Die gleichzeitige Sicht auf „alles“ ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hatten jene Genies davon nichts gehört? Sie hätten selbst darauf kommen müssen, ihre eigenen Forschungen legten den Schluss doch nahe.
Er resümierte nochmals für sich selbst: auf der