Karin atmete tief durch. Der Verlust ihrer Eltern war eingebrannt in ihre Seele. Auch, wenn sie noch sehr klein gewesen war, als das Unglück geschah und sie ihre Eltern, die oft auf Reisen waren, nicht immer um sich gehabt hatte. Weg war weg, für immer. Tante Hildegard hatte wirklich ihr Bestes getan, um dem kleinen Mädchen ein Zuhause zu schaffen. Und es war ihr geglückt, auf ihre Weise, und Karin war unendlich dankbar dafür. Dennoch konnte sie eine Verlustangst nie ganz überwinden. Und die Sehnsucht nach einer intakten Familie, die sie einmal mit Andrew gründen wollte. Diesem Mistkerl! Elendiger!
Langsam durchschritt sie die unteren Räume. Im Vorratskeller stapelten sich die Gläser mit selbst eingemachter Marmelade, getrocknete Kräuter hingen von der Decke. Vor einer Kiste am Boden ging Karin in die Knie und öffnete langsam den Deckel. Vor ihr lag ihr zweiter Kindheitstraum. Wie oft hatte sie die Kiste geöffnet und sich vorgestellt, mit der alten Bonbonmaschine mit den verschiedenen Walzen einen eigenen Bonbonladen in Wasserburg zu eröffnen. Karin lächelte wehmütig.
Dann schloss sie vorsichtig die Kiste, stand auf und ging die Kellertreppe zum Erdgeschoss hoch. Ihre Tante hatte fast das gesamte Erdgeschoss zu einer großen Wohnküche ausgebaut. Hier wurde gekocht, zusammengesessen und auf dem gemütlichen Sofa in einer Ecke sogar ferngesehen. Der wichtigste Lebensmittelpunkt im Haus war der große Esstisch. Ihre Finger glitten zärtlich über die raue Oberfläche des alten Holzes.
Es stimmte, dass es eine große Distanz zwischen ihrer Tante und Andrew gegeben hatte, als Karin ihn zu einem Besuch mitgebracht und ihn vorgestellt hatte.
Wie blind war sie gewesen? Obwohl nicht ganz blind, zumindest nicht in letzter Zeit. Gewisse Anzeichen, dass Andrew ihr nicht treu war, hatte sie anfangs geflissentlich ignoriert. Er war doch der Prinz, der das verschreckte Kind aus dem Kartonversteck geholt und zu seiner Prinzessin gemacht hatte. Nur, dass das Leben kein Märchen war und der Prinz ein testosterongesteuerter Highlander. Karin schluckte erneut die Tränen herunter. Plötzlich miaute es kläglich hinter ihr.
„Streuner, da bist du ja“, mit vorsichtigen Bewegungen ging Karin in die Hocke, „komm’ mein Kleiner, alles wird wieder gut.“
„Miau“, neugierig kam der Kater auf sie zu, umrundete sie. Karin hielt ihm ihre Hand hin und Streuner stupste mit seinem rabenschwarzen Köpfchen daran. Willig ließ er sich streicheln und maunzte erneut.
„Warte, gleich bekommst du etwas zu Fressen!“, Karin rannte wieder die Kellertreppe hinab. Die Einkaufstasche mit dem Katzenfutter lag noch im Waschkeller, wo sie sie hineingeworfen hatte. Wieder in der Küche wusch sie den Fressnapf aus und füllte ihn mit reichlich Katzenfutter. Gierig stürzte sich Streuner darauf. Sie stellte ihm frisches Wasser dazu und setzte ihren Erkundungsrundgang fort.
Im oberen Geschoß gab es ein winziges Bad und zwei kleine Zimmer. Eines war das Schlafzimmer ihrer Tante gewesen und eines das Zimmer, das ihr gehörte. Dort öffnete sie knarzend den alten Kleiderschrank und holte Unterwäsche und einige Kleidungsstücke heraus.
Das musste für heute genügen. Der Umstand, dass ihre Tante sie zur Alleinerbin gemacht hatte, erfüllte sie immer noch mit einer gewissen Scheu. Aber warum eigentlich? Sie setzte sich auf die Bettkante und strich sanft mit einer Hand über die pinkfarbene Tagesdecke. Das kleine Zimmer, „ihr“ Zimmer, sah noch genau so aus, wie sie es nach der Schule verlassen hatte, um auf große Reise zu gehen. So, als wollte Tante Hildegard ihr unbedingt beweisen, dass sie hier ein festes Zuhause hatte. Es für Karin einen Ort gab, an den sie immer, was auch geschah, zurückkehren konnte. Das Problem war nur, dass Karin dies in ihrem tiefsten Innern nicht glauben konnte oder wollte. Und die Bestätigung darin gesehen hatte, als sie damals zufällig mitbekam, wie Tante Hildegard sehr unwirsch auf Andrews Frage nach dem Erbe reagiert hatte. Eigentlich war sie immer auf dem Sprung gewesen. War das jetzt ihre Chance, das zu ändern? Sesshaft zu werden, eine richtige Ausbildung zu beginnen, statt immer nur kurzfristige Jobs anzunehmen?
Seufzend erhob sie sich, packte die Kleidungsstücke in eine Plastiktüte und drehte sich einmal kurz in ihrem Zimmer herum. „Vergelt’s Gott, Tante Hildegard“, flüsterte sie und ging hinaus. Im Keller wollte sie noch das Katzenklo reinigen und dann wieder verschwinden. Sicherlich war es kein Problem, regelmäßig vorbeizukommen, um nach Streuner zu sehen. Jetzt, wo der Kater allmählich Vertrauen zu ihr fasste und wieder auf regelmäßiges Fressen an seinem angestammten Platz hoffen konnte.
Im Keller angekommen, warf sie die Tasche mit den Kleidungsstücken schwungvoll aus dem Kellerfenster, bevor sie daranging, die Kisten wieder so auf dem Tisch zu stapeln, damit Streuner sie wie eine Treppe nach draußen benutzen konnte.
Vom Garten drangen seltsame Geräusche herein, die sie nicht zuordnen konnte. Karin sprang vom Tisch ab und stemmte sich halb durch das Kellerfenster. Der Nachbarshund Killer ließ interessiert von seinem neuen Spielzeug ab, der großen Plastiktüte mit Karins Kleidungsstücken, und legte sich inmitten der verteilten Klamotten nieder. Hechelnd wartete er ab. Karin erstarrte in ihrer Bewegung. Mit Kopf und Oberkörper draußen, bot sie ein appetitliches „Fressi Fressi“ für Killer. Sein Name war sicherlich Programm. Karin kam nun nicht mehr vor oder zurück. Zu allem Unglück hatte sich auch noch ihr weites Sweatshirt an einem Haken des Kellerfensterrahmens verfangen.
„Hallo“, rief sie leise. „Hallo, ist da jemand?“
Killer blinzelte und legte seine Schnauze zwischen seinen Vorderläufen auf dem Rasen ab. Er konnte warten.
„Hallooo?!“
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