Es läutete Sturm. „Geschieht dir recht du alte Widerwurzn“, murmelte Karin, „du hast mich ja noch nie leiden können, bloß weil ich eine Deutsche bin. Wahrscheinlich hast du Angst, ich könnte deinen ganzen kitschigen Nippes klauen!“ Die Tränen strömten immer noch in Sturzbächen aus ihren Augen.
Nachdem sie sich ihren Mund ausgespült und wiederaufgerichtet hatte, ging sie zum Fenster, zog die hellblauen Polyestervorhänge mit den weißen Schäfchenwolken beiseite, öffnete das Fenster und sog tief die frische Luft ein.
‚Was jetzt? Wohin jetzt?‘ Bevor Mrs Clark die Nationalgarde herbeirief, um sie mit Handschellen aus ihrer Wohnung zerren zu lassen, brauchte sie einen Plan. Mist! Alle Freunde in Edinburgh waren vor allem Andrews Freunde, die mit Sicherheit zu ihm halten würden. Dort war keine Zuflucht zu finden. Außerdem brauchte sie jetzt einen Ort, an dem sie sich verkriechen, heulen und ihre Wunden lecken konnte.
Das Geklingel hatte mittlerweile aufgehört. War das die Ruhe vor der Erstürmung durch Sicherheitskräfte? Sie zog das Fenster wieder zu, eine Hand blieb am Vorhang mit dem Design „Schäfchenwolken auf blauem Himmel“ hängen. Nirgendwo gab es einen so blauen Himmel wie in Bayern, wie gerne würde sie sich direkt dorthin beamen, am Chiemsee entlanglaufen, Steine in den See pfeffern und anschließend nach Wasserburg zurückfahren und in dem Café am Marienplatz ein fettes Butterbrot mit draufgestreutem, frischem Schnittlauch bestellen. Die Zähne in ein richtig dunkles Brot mit knuspriger Kruste versenken. Und dann bei Tante Hildegard ihr Herz ausschütten. Ihre Tante, die sie vor vielen Jahren aufgenommen hatte und sicher krampfhaft versuchen würde sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie war, dass die Episode Andrew vorbei war. Ein erstes Treffen zwischen Tante Hildegard und Andrew war nicht so verlaufen, wie es sich Karin gewünscht hätte. Auch wenn sie nichts sagte, so hatte Karin doch die Vorbehalte ihrer Tante gegen Andrew gespürt.
Mist, Mist, Mist! Die Tatsache, dass ihre Tante mit ihrer Menschenkenntnis Recht behalten hatte, hielt sie ab, sich eine Tasche zu schnappen, ein Flugticket nach München zu besorgen und Trost bei ihrem einzig verbliebenen Familienmitglied zu suchen. Nicht zu vergessen Streuner, dem rabenschwarzen Kater, dem sie seit jeher alle Geheimnisse anvertraute.
Jetzt klopfte es an der Wohnungstür. „Karin, Karin, öffne bitte die Tür!“ Andrew!
Karin setzte sich auf den Badewannenrand. Wie sollte sie nachdenken bei diesem Lärm? Sie rollte sich reichlich von dem rosafarbenen Toilettenpapier ab und schnaubte sich trompetend die Nase frei. Wie sie es drehte und wendete, sie würde wohl in den sauren Apfel beißen und ihrer Tante erklären müssen, dass sie erst einmal wieder bei ihr unterschlüpfen müsste. Mist, elendiger!
Das Geklopfe wurde lauter. „Karin – öffnen – wichtiger Anruf – Tante – Deutschland.“, klang es dumpf vom Hausflur durch die geschlossene Tür.
Karin horchte auf. ‚Na so was‘, dachte sie gerührt, ‚hat Tantchen wieder den siebten Sinn, dass ich ihre Hilfe brauche.‘ Halb resigniert, halb erleichtert tupfte sie sich die Tränenspuren aus dem Gesicht, entsorgte den rosafarbenen Papierklumpen in der Toilette und trat in den Flur. Das Klopfen verstummte erst, als Karin die Wohnungstür öffnete. Mrs Clark erklomm ihr Reich wie eine abgeschossene Rakete, drängte sich empört an Karin vorbei, schubste sie energisch hinaus und schloss mit einem lauten Knall die Wohnungstür. Na, die würde es sich zweimal überlegen, wie sie die nächsten nachbarschaftlichen Lauschangriffe plante! Jetzt stand Sie Andrew Auge in Auge gegenüber.
„Es tut mir wirklich leid“, so betreten hatte Karin Andrew noch nie gesehen, als er ihr das Telefon entgegenhielt.
Mit einem Kopfnicken Richtung ihrer noch, oder besser gesagt ehemaligen, gemeinsamen Wohnung fragte Karin, „ist Rotlöckchen noch drin?“ Andrew schüttelte verneinend den Kopf. Karin ging zurück in die Wohnung, Andrew folgte ihr zögernd. Sie seufzte laut auf, hielt das Telefon an ihr Ohr und sagte, „Hallo Tante Hildegard.“
Kurzes Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung.
„Hallo, hallo, Tante Hildegard, bist du noch dran? Es tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen. Hier ist einiges passiert.“ Sie seufzte laut und theatralisch auf. Besser, die Tante schon einmal seelisch darauf vorzubereiten, was nun kommen sollte.
„Karin?“ Das war zweifelsohne eine männliche Stimme. Irritiert sah sie auf das Telefondisplay. Das war doch die Vorwahlnummer von Wasserburg?
„Karin!“, nochmal diese belegte Stimme, „Hier ist Florian.“ Und bevor sie ihn, ihren Freund aus Kindertagen begrüßen konnte, fuhr er schon wie gehetzt fort, „Karin, du musst sofort herkommen. Es tut mir leid, aber ich muss dir mitteilen, dass deine Tante letzte Nacht verstorben ist.“
Hinter ihr fiel eine Tür ins Schloss.
2. Kapitel
Karin starrte fassungslos auf das Gepäckförderband im Münchner Flughafen Franz-Josef-Strauß‚ auf welchem einsam ein Rucksack, der definitiv nicht ihr gehörte, seine Bahnen zog. ‚So viel Pech kann doch kein Mensch haben‘, dachte sie wütend und sah sich hilfesuchend nach einem geeigneten Opfer um, das sie für diese weitere Misere in ihrem Leben verantwortlich machen konnte. Doch mit ihren verheulten Augen und der roten Nase zog sie einen unsichtbaren Bannkreis um sich. Die Trauer um den Tod ihrer geliebten Tante und Andrews Verrat hatten sie mit voller Wucht getroffen. Wie sie es letztendlich geschafft hatte, ein paar Sachen zusammen zu packen, das Flugticket zu organisieren und es in den Flieger zu schaffen, war ihr im Nachhinein ein Rätsel. Der Nebel voller Schmerz lichtete sich erst, als sie am Gepäckförderband stand und ergebnislos auf ihre zwei Koffer wartete.
Auf der Suche nach einem Schalter, an dem sie ihr Gepäck als vermisst melden konnte, passierte sie ein Kleinkind, das sich wütend kreischend auf dem Boden wälzte. Ach, wie gerne würde sie sich jetzt direkt neben dem Balg auf den Steinfliesen wälzen und ihren Frust herausschreien!
„Entschuldigung‚ Entschuldigung“, stoppte Karin eine afrikanisch aussehende Reinigungskraft, die eigentlich auf einen Pariser Laufsteg gehörte als in diesen potthässlichen Polyesterkittel und die mit ihrem schweren Materialwagen nicht schnell genug die Flucht ergreifen konnte, „wo kann ich mein Gepäck als vermisst melden?“ Die Angesprochene sah sie mit großen Augen an, und Karin seufzte tief auf, ‚war es so schwer Personal mit minimalen deutschen Sprachkenntnissen zu finden?‘
„Da müssn’s zum Gepäckschalta“, wurde sie schnell eines Besseren belehrt, „aba deswegn müssn’s net woana, meistns taucht da Koffa schnell wierda auf.“ Die afrikanische Schönheit lächelte ihr aufmunternd zu und deutete auf einen Schalter direkt vor ihr, auf dem groß und sichtbar ein Schild mit „Lost and Found“ angebracht war. Karin fühlte sich etwas besser, bis sie an der Reihe war und sie detailreich Angaben zu ihren zwei verschollenen Koffern machen konnte. Während die Mitarbeiterin am Schalter ihr das Formular ihrer Gepäckverlustmeldung aushändigte und sie explizit darauf hinwies, dass sie bei allen Rückfragen die darauf vermerkte Referenznummer angeben musste, klingelte Karins Handy. Abgelenkt von dem Gebimmel stopfte sie geistesabwesend das Formular in ihre Jackentasche und schulterte ihre Handtasche.
„Karin, Süße, bist du