Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Жозе Сарамаго
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455812787
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was Sie gewählt haben, erhielt er, als handelte es sich um eine auswendig gelernte Botschaft, wortwörtlich das zur Antwort, was im Gesetzestext steht, Niemand kann unter welchem Vorwand auch immer gezwungen werden preiszugeben, was er gewählt hat, und auch von keiner Behörde darüber befragt werden. Und als er in einem beiläufigen Ton, als messe er der Sache keinerlei Bedeutung bei, die zweite Frage stellte, Entschuldigen Sie meine Neugier, aber Sie haben nicht zufällig einen weißen Stimmzettel abgegeben, blieb die Antwort, die er zu hören bekam, in ihrer Kernaussage geschickt akademisch, Nein, mein Herr, ich habe keinen weißen Stimmzettel abgegeben, aber hätte ich das getan, wäre es ebenso legal, wie wenn ich eine der vorgegebenen Listen gewählt oder eine ungültige Stimme mit der Karikatur des Präsidenten abgegeben hätte, weiß wählen, mein lieber Herr Fragesteller, ist ein uneingeschränktes Recht, das das Gesetz den Wählern wohl oder übel zugestehen musste, und dort steht unmissverständlich geschrieben, dass niemand verfolgt werden kann, nur weil er einen weißen Stimmzettel abgegeben hat, doch zu ihrer Beruhigung kann ich Ihnen erneut versichern, dass ich nicht zu denen gehöre, die weiß gewählt haben, ich habe nur geredet um des Redens willen, habe eine abstrakte Hypothese aufgestellt, mehr nicht. In einer gewöhnlichen Situation wäre nichts dabei, eine solche Antwort zwei- oder dreimal zu hören, zeigte dies doch lediglich, dass einige Menschen auf dieser Welt die Gesetze kennen, denen sie unterstehen, und Wert darauf legen, doch wenn man sich gezwungen sieht, sich diese Antwort wie eine auswendig gelernte Litanei ungerührt und ohne mit der Wimper zu zucken hundertmal, tausendmal hintereinander anzuhören, übersteigt das eindeutig die Geduld eines Menschen, der für eine äußerst sensible Aufgabe ausgebildet wurde und sich nun nicht in der Lage sieht, diese zu erledigen. So ist es nicht verwunderlich, dass angesichts des systematischen Widerstands der Wähler einige der Agenten die Nerven verloren und zu Beleidigungen und Handgreiflichkeiten übergingen, was sie nicht immer heil überstanden, zumal sie alleine agierten, um das gejagte Wild nicht zu erschrecken, und nicht selten, vor allem in den so genannten schlechteren Gegenden, andere Wähler dem Beleidigten zu Hilfe eilten, die Folgen lassen sich leicht ausmalen. Die Berichte, die die Agenten an die Zentrale übermittelten, waren erschreckend mager, niemand, nicht ein Einziger, hatte gestanden, einen weißen Stimmzettel abgegeben zu haben, manche hatten sich dumm gestellt, gesagt, sie würden ein andermal antworten, wenn sie mehr Zeit hätten, sie hätten es gerade sehr eilig, die Geschäfte machten gleich zu, doch am allerschlimmsten waren die Alten, der Teufel soll sie holen, es war, als habe eine Taubheitswelle sie alle in eine schalldichte Kapsel verbannt, und schrieb der Agent die Frage schließlich mit entwaffnender Naivität auf ein Blatt Papier, behaupteten sie frech, sie hätten ihre Brille zerbrochen, könnten die Schrift nicht lesen oder hätten schlichtweg nie lesen gelernt. Es gab jedoch andere, geschicktere Agenten, die den Gedanken der Infiltration wörtlich nahmen, diese trieben sich in Kneipen herum, gaben Getränke aus, liehen mittellosen Pokerspielern Geld, gingen regelmäßig ins Stadion, vor allem zu Fußball- oder Basketballspielen, wenn auf den Zuschauerrängen am meisten los war, kamen mit ihren Nachbarn ins Gespräch, und wenn ein Fußballspiel mit einem torlosen Unentschieden endete, nannten sie es, o welch erhabene Schläue, mit zweideutigem Unterton ein Blanko-Ergebnis, um die Reaktionen zu testen. Doch gab es keine Reaktionen. Früher oder später kam dann stets der Augenblick, da die Frage gestellt wurde, Wären Sie so nett, mir zu sagen, welche Partei Sie gewählt haben, Entschuldigen Sie meine Neugier, aber Sie haben nicht zufällig weiß gewählt, und dann wiederholten sich die bekannten Antworten, einstimmig oder im Chor, Ich, wo denken Sie hin, Wir, Sie träumen wohl, und sofort wurden wieder die gesetzlichen Grundlagen mit sämtlichen Artikeln und Absätzen angeführt, mit einer Beredtheit, dass man hätte meinen können, sämtliche wahlberechtigten Bürger der Stadt hätten an einem Intensivkurs über nationale und internationale Wahlgesetzgebung teilgenommen.

      Mit der Zeit, und anfangs geschah dies fast unmerklich, ließ sich feststellen, dass das Wort weiß nicht mehr benutzt wurde, als sei es zu etwas Obszönem oder Unanständigem geworden, für das die Menschen Synonyme oder Umschreibungen finden mussten. Bei einem weißen Blatt Papier hieß es zum Beispiel, es sei ohne Farbe, ein Handtuch, das ein Leben lang weiß gewesen war, wurde plötzlich milchfarben, der Schnee wurde nicht mehr mit einer weißen Decke verglichen, sondern wurde zur größten bleichen Last der letzten zwanzig Jahre, die Studenten sagten nicht mehr, in ihrem Kopf sei alles leer und weiß, sondern gestanden lediglich, dass sie keine Ahnung von dem Stoff hätten, doch der interessanteste Fall war das plötzliche Verschwinden jenes Rätsels, mit dem Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten und Nachbarn über Generationen die Intelligenz und deduktiven Fähigkeiten von Kleinkindern zu fördern geglaubt hatten, Weiß ist es, die Henne legt es, denn diejenigen, die sich scheuten, dieses Wort auszusprechen, merkten plötzlich, dass die Frage absoluter Blödsinn war, eine Henne, eine Henne jeglicher Rasse, wird niemals etwas anderes als Eier legen können, so sehr sie sich auch anstrengt. Es sah also so aus, als seien die Aussichten des Innenministers auf Höheres im Leben von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, als stürze sein Schicksal, nachdem es fast die Sonne berührt hatte, erbarmungslos in den Hellespont, doch eine andere Idee, so plötzlich wie ein Blitz in der Nacht, ließ es wieder erstehen. Es war noch nicht alles verloren. Er beorderte die Feldagenten in die Zentrale zurück, entließ gnadenlos alle Zeitangestellten, führte eine Säuberung bei seiner Geheimpolizei durch und schritt zur Tat.

      Fest stand, dass die Stadt ein Ameisenhaufen von Lügnern war, dass jene fünfhundert, die er in Gewahrsam genommen hatte, ebenfalls nur Lügen aus ihrem Mund herausließen, doch gab es zwischen den einen und den anderen einen Unterschied, während die einen noch die Freiheit besaßen, ihre Häuser zu verlassen und dorthin zurückzukehren, scheu und schlüpfrig wie Aale aufzutauchen und wieder zu verschwinden, um später erneut aufzutauchen und wieder zu verschwinden, war der Umgang mit den anderen die einfachste Sache der Welt, man musste nur in den Keller des Ministeriums hinabsteigen, wenngleich dort nicht alle fünfhundert versammelt waren, hätten sie doch gar keinen Platz gehabt, weshalb sie überwiegend auf andere Untersuchungseinheiten verteilt worden waren, doch die fünfzig dort unter permanenter Beobachtung Stehenden sollten für eine erste Behandlungsrunde mehr als genügen. Zwar war die Verlässlichkeit der Maschine von Spezialisten der Skeptiker-Schule in Frage gestellt worden, zwar hatten einige Gerichte sich geweigert, die bei den Untersuchungen erzielten Ergebnisse als Beweise anzuerkennen, dennoch hatte der Innenminister die Hoffnung, die Anwendung des Apparates könnte einen kleinen Funken zünden, der ihnen aus dem dunklen Tunnel, in dem die Untersuchungen stecken geblieben waren, heraushalf. Es handelte sich, wie gewiss bereits deutlich geworden ist, um den Einsatz des berühmten Polygraphen, auch unter dem Namen Lügendetektor bekannt oder, wissenschaftlich gesprochen, Apparat zur gleichzeitigen Aufzeichnung verschiedenartiger psychologischer und physiologischer Funktionen oder, noch detaillierter, Instrument zur Registrierung physiologischer Phänomene, deren Aufzeichnung elektrisch auf einem feuchten, mit Kaliumjodid und Stärke getränkten Papier erfolgt. Der mittels zahlreicher Kabel, Riemen und Saugnäpfe an die Maschine angeschlossene Patient leidet nicht, er muss lediglich die Wahrheit sagen, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und darf vor allem nicht an diese gängige, aber falsche These glauben, die man uns seit Menschengedenken eintrichtert, dass nämlich der Wille alles vermag, denn hier haben wir, um das Thema abzuschließen, den eindeutigen Gegenbeweis, dein wunderbarer Wille kann nicht, so sehr du auch auf ihn vertraust, so stark er sich auch bis heute gezeigt hat, die Kontraktion deiner Muskeln kontrollieren, kann keine plötzlichen Schweißausbrüche trocknen, das Zittern deiner Lider unterbinden oder deine Atmung disziplinieren. Am Ende wird man dir sagen, dass du gelogen hast, du wirst es abstreiten, wirst schwören, die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt zu haben, und vielleicht stimmt das auch, du hast nicht gelogen, aber du bist ein nervöser Mensch, mit einem starken Willen zwar, doch irgendwie auch ein schwankendes Rohr, das beim leisesten Windhauch erzittert, sie werden dich wieder an die Maschine anschließen, und es wird noch schlimmer werden, sie werden dich fragen, ob du lebendig bist, und das wirst du natürlich bejahen, doch dein Körper wird protestieren, wird dich widerlegen, das Zittern deines Kinns wird es verneinen, wird sagen, du seiest tot, und womöglich hat es Recht, vielleicht weiß dein Körper ja bereits vor dir, dass sie dich töten werden. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass derlei Dinge in den Kellern des Innenministeriums vor sich gehen, denn das einzige Verbrechen dieser Leute bestand darin, weiß gewählt zu haben, und das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte es sich nur um die übliche Anzahl gehandelt, aber es waren viele, es waren zu viele,