Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Жозе Сарамаго
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455812787
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durch eine strenge Gewissensprüfung, zu der ich die Bürger dieser Stadt von dieser öffentlichen Tribüne aus aufrufe, die einen, damit sie sich wirksamer vor der drohenden Gefahr schützen können, die anderen, die vielleicht absichtlich, vielleicht auch unabsichtlich so gehandelt haben, damit sie diesen Frevel, zu dem sie sich durch wer weiß wen haben hinreißen lassen, wieder gutmachen, da sie andernfalls zum direkten Ziel von Sanktionen werden könnten, die der Ausnahmezustand vorsieht, dessen Verhängung seitens seiner Exzellenz, des Staatschefs, die Regierung nach Beratung mit dem Parlament beantragen wird, welches morgen zu diesem Zweck zu einer Sondersitzung zusammenkommt, auf der dies hoffentlich einstimmig beschlossen wird. Veränderung im Ton, die Arme werden halb ausgebreitet, die Hände bis auf Schulterhöhe erhoben, Die Regierung der Nation erkennt ganz klar den brüderlichen Einigungswillen des restlichen Landes, welches mit überaus lobenswertem Gemeinsinn ganz normal seiner Wählerpflicht nachgekommen ist und wie ein liebevoller Vater jener vom rechten Weg abgekommenen Hauptstadtbevölkerung die in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn verborgene Lektion nahe bringt und sie daran erinnert, dass das menschliche Herz keinen Fehler kennt, der unverzeihlich wäre, solange echte Zerknirschung und aufrichtige Reue bestehen. Der letzte, sehr wirkungsvolle Satz des Premierministers, Ehret die Heimat, denn die Heimat schaut auf euch, begleitet von Trommelwirbel und Hörnerklang, aus den Tiefen schimmligster vaterländischer Rhetorik hervorgekramt, wurde von ein paar falsch klingenden Gute-Nacht-Wünschen wieder zunichte gemacht, denn mit einfachen, geneigten Worten kann man niemanden täuschen.

      Überall in den Häusern, Bars, Kneipen, Cafés, Restaurants, Vereinigungen oder politischen Zentralen, wo sich Wähler der Partei der Rechten, der Partei der Mitte und sogar der Partei der Linken aufhielten, wurde die Botschaft des Premierministers lang und breit diskutiert, wenngleich natürlich mit ganz unterschiedlichem Tenor. Am zufriedensten mit der Performance des Staatschefs, dieser barbarische Begriff stammt von ihnen, nicht von dem, der diese Geschichte erzählt, waren die Anhänger der PDR, welche sich einvernehmlich und augenzwinkernd zu der hervorragenden Taktik beglückwünschten, die der Regierungschef gewählt hatte, jene nämlich, die landläufig unter dem kuriosen Begriff Zuckerbrot und Peitsche bekannt ist und früher überwiegend bei Eseln und Maultieren Anwendung fand, in der heutigen Zeit jedoch mit beachtlichem Erfolg bei Menschen eingesetzt wird. Einige Parteigenossen jedoch, vom Typ her eher Großmäuler oder Aufschneider, waren der Ansicht, der Premierminister hätte seine Rede an der Stelle beenden sollen, da er die Ausrufung des Ausnahmezustands verkündet hatte, alles, was danach kam, sei überflüssig gewesen, helfe bei diesem Pack doch nur der Knüppel, Wenn wir jetzt nicht hart durchgreifen, sind wir verloren, nicht einmal Wasser hat der Feind verdient, und dergleichen kraftvolle Äußerungen mehr. Die Parteigenossen antworteten, ganz so könne man das auch nicht sehen, der Regierungschef habe seine Gründe, doch diese Pazifisten, naiv wie eh und je, wussten nicht, dass die heftige Reaktion der Hardliner nur ein taktisches Manöver war, mit dem Ziel, den Kampfgeist der aktiven Mitglieder wach zu halten. Wie auch immer, es waren starke Worte gewesen. Die Anhänger der PDM wiederum, ihrer Oppositionsrolle gemäß und trotz grundsätzlicher Übereinstimmung in der Sache, sprich, dem Erfordernis, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und die Gesetzesübertreter oder Verschwörer zu bestrafen, hielten die Verhängung des Ausnahmezustands für unverhältnismäßig, zumal man nicht wisse, wie lange er andauern werde, und letztlich sei es doch auch völlig sinnlos, die Rechte von Menschen einzuschränken, deren Verbrechen einzig und allein darin bestand, eines dieser Rechte ausgeübt zu haben. Wo soll das enden, fragten sie sich, falls es irgendeinem Bürger einfällt, Klage beim Verfassungsgericht einzureichen, Intelligenter und patriotischer wäre es, hieß es, gleich eine Regierung zur nationalen Rettung zu bilden, in der alle Parteien vertreten sind, denn wenn tatsächlich eine Krisensituation vorliegt, dann ist sie mit einem Belagerungszustand nicht zu lösen, offensichtlich sind der PDR die Zügel entglitten, und bald werden wir sie vom Pferd stürzen sehen. Auch die Anhänger der PDL triumphierten angesichts der Möglichkeit, an einer Regierungskoalition beteiligt zu werden, doch ihre derzeit größte Sorge war, eine Deutung des Wahlergebnisses zu erreichen, die den gewaltigen Stimmverlust der Partei kaschierte, denn bei der letzten Wahl hatte sie noch fünf Prozent erzielt, bei der ersten Runde der jetzigen nur noch zweieinhalb, und nun konnte sie nur noch einen elenden Prozentpunkt vorweisen, und die Zukunft war düster. Das Ergebnis dieser Analyse fand Eingang in ein Kommuniqué, mit dem nahe gelegt werden sollte, man müsse, da es keinen objektiven Grund zu der Annahme gab, dass die leeren Stimmzettel einen Angriff auf die Sicherheit des Staates oder die Stabilität des Systems darstellten, davon ausgehen, dass eine Übereinstimmung zwischen dem damit zum Ausdruck gebrachten Veränderungswillen und den progressiven Vorschlägen im Programm der PDL zufällig sei. Nicht mehr, und doch so viel.

      Es gab aber auch Menschen, die einfach nur den Fernseher ausmachten, als der Premierminister seine Rede beendet hatte, und sich danach über ihr Leben unterhielten, bis sie ins Bett gingen, während andere wiederum den ganzen restlichen Abend damit zubrachten, Papiere zu zerreißen und zu verbrennen. Es waren keine Verschwörer, sie hatten einfach nur Angst.

      

      Dem Verteidigungsminister, einem Zivilen, der nicht beim Militär gedient hatte, war der Ausnahmezustand zu milde, er hatte sich einen echten, authentischen Belagerungszustand vorgestellt, einen Ausnahmezustand im wahrsten Sinne des Wortes, hart und unerbittlich wie eine bewegliche Mauer, mit der man den Aufstand isolieren und anschließend in einem fulminanten Gegenschlag niederwerfen könnte, Ehe die Pest und das Verderben auf den gesunden Teil des Landes übergreifen, warnte er. Der Premierminister gab zu, die Lage sei äußerst ernst, das Vaterland sei Opfer eines schändlichen Anschlags auf die Grundfesten der parlamentarischen Demokratie geworden, Ich würde es eher einen Tiefschlag gegen das System nennen, erlaubte sich der Verteidigungsminister zu widersprechen, So ist es, doch bin ich der Meinung, und der Staatschef stimmt in diesem Punkt mit mir überein, dass wir uns, auch wenn wir die Gefahren des Augenblicks keinesfalls aus den Augen verlieren und unsere Mittel und Ziele stets darauf abstimmen sollten, trotzdem zunächst behutsamer, weniger auffälliger und dennoch vielleicht wirkungsvollerer Methoden bedienen sollten, als die Straßen der Stadt von den Streitkräften besetzen zu lassen, den Flughafen zu schließen und an den Ausgängen der Stadt Sperren zu errichten, Und was sollen das für Methoden sein, fragte der Verteidigungsminister, ohne in irgendeiner Weise seinen Unmut zu verbergen, Keine, die Sie nicht bereits kennen, wie Sie wissen, verfügen die Streitkräfte über eigene Spionagedienste, Wir nennen die unseren Gegenspionagedienste, Das ist doch dasselbe, Ja, aber jetzt verstehe ich, worauf Sie hinauswollen, Ich wusste, dass Sie es verstehen würden, sagte der Premierminister, während er gleichzeitig dem Innenminister ein Zeichen gab. Dieser ergriff das Wort, Ohne hier auf Einzelheiten der Operation eingehen zu wollen, die, wie Sie bestimmt verstehen werden, geheim sind, um nicht zu sagen top secret, basiert der von meinem Ministerium ausgearbeitete Plan im Wesentlichen auf einer weiträumigen, systematischen Infiltrierung der Bevölkerung, durchgeführt von entsprechend ausgebildeten Agenten, die uns Erkenntnisse über die Gründe für das Vorgefallene verschaffen und in die Lage versetzen soll, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, damit wir das Übel gleich an der Wurzel packen können, Von Wurzel kann hier wohl keine Rede sein, eher von einem ausgewachsenen Problem, bemerkte der Justizminister, Das war doch nur eine Redensart, antwortete der Innenminister in leicht gereiztem Ton und fuhr fort, An dieser Stelle soll dem Ministerrat auch mitgeteilt werden, und diese Information ist streng vertraulich, dass die Spionagedienste, man verzeihe mir die Wiederholung, die meinem Kommando unterstehen, oder besser gesagt, die meinem Ministerium zugeordnet sind, nicht ausschließen, dass die Wurzel der Geschehnisse in Wahrheit im Ausland steckt, dass das, was wir hier erleben, nur die Spitze des Eisbergs einer gigantischen internationalen Verschwörung zum Zwecke der politischen Destabilisierung ist, vermutlich anarchistischen Ursprungs, die sich aus bislang ungeklärten Gründen unser Land als erstes Versuchskaninchen ausgesucht hat, Merkwürdige Vorstellung, sagte der Kulturminister, meines Wissens strebten die Anarchisten nie Aktionen dieser Art und Tragweite an, nicht einmal theoretisch, Das liegt vielleicht daran, gab der Verteidigungsminister sarkastisch zurück, dass sich das Wissen unseres geschätzten Kollegen zeitlich noch immer auf die idyllische Welt seiner Großeltern bezieht, doch seitdem, so merkwürdig Ihnen das vorkommen mag, hat sich einiges verändert, es gab die Zeit eines teils romantischen, teils blutigen Nihilismus, aber womit wir uns heute konfrontiert sehen, ist blanker, purer Terrorismus,