Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Жозе Сарамаго
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455812787
Скачать книгу
der Stadt übernehmen müssten. In jedem Fall hätten sich diese Personen, sollte der Vorschlag angenommen werden, an den Morgen der Werktage an einem noch zu bestimmenden Ort zu versammeln, um sich von dort unter polizeilichem Geleit in Bussen an die verschiedenen Ausgänge der Stadt transportieren zu lassen, von wo aus sie wiederum in weiteren Bussen zu ihren Fabriken oder Arbeitsstätten gebracht würden, von denen sie am Abend zurückkehren müssten. Sämtliche aus diesen Vorkehrungen erwachsende Kosten, vom Bustransfer bis zur angemessenen Bezahlung der Geleitpolizisten, müssten vollständig von den Unternehmen getragen werden, wenngleich sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Steuer abgesetzt werden könnten, was zu gegebener Zeit, nach Erstellung einer Durchführbarkeitsstudie seitens des Finanzministeriums entschieden würde. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies nicht die einzigen Beschwerden waren. Eine elementare Erfahrung belegt, dass der Mensch nicht ohne Essen und Trinken auskommt, und bedenkt man nun, dass das Fleisch von draußen kam, der Fisch von draußen kam, dass von draußen auch das Gemüse kam, kurzum, alles von draußen kam, und dass das, was die Stadt selbst produzieren und lagern konnte, das Überleben der Menschen nicht einmal für eine Woche gesichert hätte, so wurden Versorgungssysteme, ähnlich denen, die die Unternehmen mit Managern und leitenden Angestellten beliefern sollten, indes weitaus komplexer aufgrund des verderblichen Charakters bestimmter Produkte, dringend nötig. Und nicht zu vergessen die Krankenhäuser und Apotheken, die Kilometer von Verbänden, die Berge von Verbandwatte, die Tonnen von Pillen, die Hektoliter von Injektionsflüssigkeiten, die Massen von Präservativen. Auch an das Benzin und das Dieselöl muss gedacht werden, wie man es zu den Tankstellen schafft, es sei denn, irgendein Regierungsmitglied ersinnt den machiavellistischen Plan, die Hauptstadtbewohner gleich doppelt zu bestrafen, indem man sie zwingt, zu Fuß zu gehen. Nach wenigen Tagen hatte die Regierung begriffen, dass ein Belagerungszustand kein Pappenstiel ist, vor allem wenn man die Belagerten nicht, wie in früheren Zeiten, auszuhungern gedenkt, er kann nicht einfach von heute auf morgen improvisiert werden, man muss vielmehr ganz genau wissen, was und wie man etwas bezwecken will, muss Folgen abschätzen, Reaktionen erwägen, Nachteile in Betracht ziehen, Gewinne und Verluste kalkulieren, und damit wollen wir es belassen, um den Ministerien nicht noch mehr Arbeit zu machen, die sich über Nacht sowieso schon mit einer unaufhaltsamen Flut von Protesten, Beschwerden und Bitten um Erklärungen konfrontiert sahen, welche in den meisten Fällen nicht angemessen beantwortet werden konnten, da die Instruktionen von höherer Stelle lediglich die allgemeinen Prinzipien des Belagerungszustands darlegten und mit keiner Silbe auf die kleinteiligen bürokratischen Details der Durchführung eingingen, mit denen unweigerlich das Chaos beginnt. Ein interessanter Aspekt dieser Situation, der der satirischen und spöttischen Ader der Spaßvögel der Hauptstadt natürlich nicht entging, war die Tatsache, dass die Regierung, welche de facto und de jure der Belagerer war, gleichzeitig selbst belagert wurde, nicht nur, weil ihre Konferenzräume und Vorzimmer, ihre Büros und Flure, ihre Ämter und Archive, ihre Karteikästen und Stempel sich im Herzen der Stadt befanden und dieses in gewisser Weise organisch bildeten, sondern auch, weil einige ihrer Mitglieder, nämlich mindestens drei Minister, einige Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre nebst ein paar Generaldirektoren in den Außenbezirken wohnten, ganz zu schweigen von all den kleinen Angestellten, die morgens und abends erst in die eine und dann in die andere Richtung Zug, U-Bahn oder Bus nehmen mussten, sofern sie nicht über ein eigenes Transportmittel verfügten oder sich nicht dem Gewirr des Stadtverkehrs aussetzen wollten. Die Witze, die man nicht nur hinter vorgehaltener Hand darüber machte, kreisten um das altbekannte Bild des Jägers, der in die eigene Falle tappt, oder um das Sprichwort Wer-anderen-eine-Grube-gräbt-fälltselbst-hinein, doch blieb es nicht bei diesen unschuldigen Kindereien, diesem Kindergartenhumor aus Zeiten der Belle Époque, es gab auch äußerst schillernde Varianten, einige davon ungebührlich obszön und fäkal, gemessen an den Maßstäben des guten Geschmacks. Leider wurde dadurch weder der Belagerungszustand aufgehoben, noch wurden die Versorgungsprobleme gelöst, womit wieder einmal die geringe Reichweite und strukturelle Schwäche von Sarkasmus, Spott, Hohn, Stichelei, Witz und Scherz bei der Verunglimpfung der Regierung bewiesen wäre.

      Die Tage vergingen, die Schwierigkeiten nahmen immer weiter zu, verstärkten und multiplizierten sich, sprossen aus dem Boden wie Morcheln nach dem Regen, doch die Moral der Bevölkerung war ungebrochen, niemand schien geneigt, klein beizugeben oder das aufzugeben, was er als gebührend empfunden und mit seiner Stimme zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich das simple Recht, sich keiner festgelegten Meinung anzuschließen. Einige Beobachter, in der Regel Korrespondenten ausländischer Medien, die eilends entsandt worden waren, um die Ereignisse zu covern, wie es im Fachjargon heißt, und daher mit den lokalen Eigenheiten nicht vertraut waren, berichteten mit Verwunderung vom vollständigen Ausbleiben von Konflikten unter den Menschen, obgleich es nachweislich zu Eingriffen von Provokateuren gekommen war, mit denen man versucht hatte, Instabilität herbeizuführen, um vor den Augen der so genannten internationalen Gemeinschaft den noch fehlenden Schritt rechtfertigen zu können, nämlich, vom Belagerungszustand zum Kriegszustand überzugehen. Einer der Kommentatoren wollte besonders originell sein und deutete diese Tatsache als einzigartigen, historisch nie da gewesenen Fall ideologischer Übereinstimmung, der die Hauptstadtbevölkerung, sollte dies tatsächlich zutreffen, zu einer höchst interessanten, untersuchenswerten politischen Abnormität machte. Der Gedanke war bei Licht besehen völlig unsinnig und hatte nichts mit der Realität zu tun, denn sowohl hier als auch überall sonst auf dem Planeten sind die Menschen verschieden, sie denken unterschiedlich, sind nicht alle arm und auch nicht alle reich, und bei denen dazwischen sind die einen ärmer und die anderen weniger arm. Den einzigen Punkt, in dem diese Menschen, ohne dass es einer vorherigen Absprache bedurft hätte, übereinstimmten, kennen wir bereits, und deshalb lohnt es sich auch nicht, länger darauf herumzureiten. Trotzdem ist es nur verständlich, dass man herauszufinden suchte, und diese Frage stellten sich ausländische wie einheimische Journalisten immer wieder, aus welch einzigartigen Gründen es noch nicht zu Zwischenfällen, Auseinandersetzungen, Tumulten, Schlägereien oder Schlimmerem zwischen Weißwählern und anderen Wählern gekommen war. Die Frage zeigt jedoch mit aller Deutlichkeit, wie wichtig ein paar grundlegende Mathematikkenntnisse für die Berufspraxis des Journalisten sind, schließlich brauchten sie sich nur zu vergegenwärtigen, dass die Menschen, die weiß gewählt hatten, dreiundachtzig Prozent der Hauptstadtbevölkerung ausmachten und die übrigen, alle zusammen genommen, lediglich siebzehn, wobei man auch nicht die umstrittene These der Partei der Linken vergessen durfte, dass nämlich die weißen Stimmen und die für ihre Partei metaphorisch gesprochen aus einem Holz geschnitzt seien, dass die Wähler der PDL, und diese Schlussfolgerung stammt nun wieder von uns, nur deshalb nicht alle weiß gewählt hätten, obgleich viele dies bei der wiederholten Wahl nachweislich getan hatten, weil sie nicht eigens dazu aufgefordert worden seien. Niemand würde uns glauben, wenn wir behaupteten, die siebzehn wollten gegen die dreiundachtzig antreten, denn die Zeiten, da Schlachten noch mit Gottes Hilfe gewonnen wurden, sind vorbei. Verständlich ist auch die Neugier bezüglich der fünfhundert Menschen, die von den Spionen des Innenministeriums in den Wählerschlangen gefasst worden waren, jenen Menschen, die anschließend quälende Verhöre über sich ergehen lassen und das Leid erfahren mussten, ihre intimsten Geheimnisse vom Lügendetektor offen gelegt zu sehen, und ebenso nachvollziehbar ist die Neugier bezüglich der Spezialagenten der Geheimdienste und ihrer untergebenen Helfer. Über Erstere gibt es nur Spekulationen und keinerlei Möglichkeit, diese zu bestätigen. Die einen meinten, die fünfhundert Häftlinge kooperierten, wie es mit dem bereits bekannten polizeilichen Euphemismus hieß, noch immer mit den Behörden, um den Fall aufzuklären, andere wiederum behaupteten, sie würden gerade in die Freiheit entlassen, peu à peu, damit es nicht so auffiele, und die Skeptiker wiederum glaubten eher an die Version, dass man sie allesamt aus der Stadt geschafft und an einen unbekannten Ort gebracht hatte, wo die Verhöre weitergingen, auch wenn sie bisher zu keinem Ergebnis geführt hätten. Wer weiß, wer hier Recht hat. Über die Geheimdienstagenten hingegen haben wir absolute Gewissheit. Wie andere brave, rechtschaffene Arbeiter verlassen sie morgens ihre Häuser, streifen auf der Suche nach Indizien kreuz und quer durch die Stadt, und wenn sie meinen, den Fisch im Netz zu haben, probieren sie eine neue Taktik aus, die darin besteht, ihr Gegenüber ohne Umschweife und völlig unvermittelt zu fragen, Reden wir mal ganz offen, wie unter Freunden, ich habe weiß gewählt, und Sie. Anfangs begnügten sich die Befragten damit, die bereits bekannten Antworten zu geben, dass niemand gezwungen werden könne preiszugeben, was er gewählt habe, und dass niemand von irgendeiner Behörde dazu befragt