Hier erhob sich Kilian, begann, in der Amtsstube umherzulaufen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, setzte auch mehrmals an, um etwas zu erwidern, brachte aber nichts heraus. Die Blicke des Vaters folgten seinen Schritten: „Denke daran, mein Sohn, wie alt und herrlich unsere Ordnung ist, denke daran, wie gut die Bürger dieser Stadt allezeit mit dem Kurfürsten gefahren sind. Ich werde es wohl nicht mehr erleben, meine Lungen sind dafür zu schwach, aber du wirst dabei sein, wenn sich der Gründungstag der Abtei zum tausendsten Male jährt.“ Kilian ging weiter sprachlos im Zimmer herum. Er bemerkte das knarrende Parkett, auf dem er wandelte, bemerkte den schiefen Boden, über den er schritt. Alles war morsch. Ihm schien es wie ein Zeichen dessen, was hier verwaltet wurde. Es war ein kleiner Staat, in dem alles auf abschüssigem Gelände einer tiefen Schlucht entgegenrollte, erst langsam, dann schneller, um schließlich mit rasender Geschwindigkeit in den Höllenschlund zu stürzen. Allein der Gedanke daran, dass sich der Gründungstag der Abtei zum tausendsten Male jähren könnte, verursachte ihm ein Drücken in der Magengegend.
Es klopfte an der Tür. Der Vater gewährte Einlass. Ein junger Mann trat ein, dessen gekrümmte Nase und leicht abstehende Ohren, dessen fliehendes Kinn und hohe Wangenknochen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zogen. „Aha, der Sekretarius“, sprach der Vater, „ich denke, ihr kennt euch?“ Es war Rudolf Kuhn, mit dem Kilian gemeinsam die Lateinschule am Freiplatz besucht hatte. Der Sekretarius trug einen Stoß Akten unter dem Arm, legte sie auf die Wartebank und begrüßte seinen alten Kameraden, indem er dessen Rechte mit seinen beiden Händen umfasste. Kilian befürchtete eine Umarmung und hielt seine linke Faust vor sich, um den Abstand nicht zu klein werden zu lassen. Dass Rudolf inzwischen zum städtischen Sekretarius aufgestiegen war, hatte er schon durch Briefe erfahren. Jetzt aber sah er ihn in Amt und Würden vor sich, wie er wichtig schien und Miene machte, alles und jeden zu begreifen.
Rudolf war nach Ende der Schulzeit am Ort geblieben. Er hatte anstelle des Studiums die Laufbahn des Beamten eingeschlagen, war Schreiberlehrling geworden, um in den kurfürstlichen Dienst treten zu können. Er war ähnlich hochgewachsen wie Kilian. Bestechen konnte er aber allenfalls mit seiner sanften Stimme, seiner gepflegten Erscheinung und seinen tadellosen Manieren. Schon in der Lateinschule hatte er damit das milde Urteil der Lehrer herausgefordert, das so manchen Mangel an Bildung ausgleichen musste. Früh hatte er gelernt, sich das Gegenüber gewogen zu machen, ohne hierfür Großes leisten zu müssen. Kilian traute ihm kaum über den Weg. Die sanfte, ins Falsett hinüberspielende Stimme lag ihm wie ein Pfeifen in den Ohren.
„Ich störe wohl?“, fragte Rudolf vornehm, „ich wollte nur noch einen Aktenfall mit dem Herrn Schultheiß besprechen. Wenn ich nun aber störe, so gehe ich besser.“ – „Er stört nicht“, raunte der Vater, „lasse Er jedoch nur die Akten liegen, wo sie sind, und komme Er in einer halben Stunde noch einmal. Ich befinde mich in wichtiger Besprechung mit meinem Sohn, einem Lizenziaten der Universität zu Leipzig.“ Rudolf verbeugte sich leicht, machte anerkennende Miene, nickte Kilian zu und verließ die Amtsstube.
Wer es nicht besser wusste, der musste den Sekretarius ob seiner Manieren für einen Spross der städtischen Aristokratie halten. Allerdings handelte seine Familie mit Vieh aller Art, ein Gewerbe, das zur Vornehmheit kaum taugte. Dennoch hatte er es in dieser Eigenschaft zu einem erklecklichen Wohlstand gebracht, besaß bald ein Haus im Innersten der Stadt, nicht weit von der Heimstatt Kilians, und ging seinem Gewerbe von Jahr zu Jahr erfolgreicher nach. Die finanziellen Reserven reichten bald zum Kauf zweier angrenzender Anwesen. Schon mutmaßte man, der Viehhändler Kuhn sei der reichste Mann am Platze und horte in seinen Truhen den größten Schatz des Ortes, der jenen der Abtei bei Weitem übertreffe.
Der Sohn des Viehhändlers spürte früh die Unterscheidung zwischen bloßem Reichtum und wohlerworbenem Ansehen, empfand das bäuerlich-polternde Gebaren des Vaters für unschicklich, entwickelte aus dieser Einsicht seine Manieren, versagte sich die zu Hause gebräuchlichen rauen Worte und übte sich nachts im Falsett.
Nachdem Vater Kuhn das Vermögen stetig vergrößert hatte, gingen seine Kinder daran, es in Einfluss umzusetzen. Rudolfs Eintritt in die städtische Verwaltung, sein Heranreifen zum kurfürstlichen Beamten, war die Einforderung jenes Teils, das dem gewerblich Erfolgreichen im Hinblick auf politischen Einfluss bislang noch versagt gewesen war. Nun aber saß der Ohrenbläser als Sekretarius im Rathaus und lenkte den Willen des Schultheißen. Dabei entwickelte er einen kaum zu bremsenden Eifer, war aber auch ganz der treue Fürstendiener, der die Stadt und ihr Umland noch niemals verlassen hatte und sich nicht vorstellen konnte, dass sich eines Tages in der Ordnung der Ämter und Ränge auch nur das Geringste ändern könne. So versuchte er, sich in das Gefüge einzugliedern, um in ihm aufzusteigen und seiner aufstrebenden Familie einen Platz in der Rangfolge zu verschaffen, der ihrem Reichtum ebenbürtig war.
Die Luft in der Amtsstube war staubig. Kilian trat ans Fenster und riss es auf. Der alte Vater fror sogleich im winterlichen Luftzug. Er stand auf, wollte das Fenster schließen, was sein Sohn allerdings nicht zuließ. Stattdessen sprach Bonifaz Kramer: „Nimm dir ein Beispiel an deinem Kameraden aus der Lateinschule! Willst du wie ein Taugenichts mit deiner Fiedel über die Berge ziehen? Sei vernünftig und folge meinem Rat!“ – „Meinem Willen will ich folgen, Vater, nicht der Vernunft des Kurfürsten, die keine ist. Lass mich doch mit den Pfaffen in Ruhe! Überall lauert das Ende, alles ist im Sterben begriffen. Den Toten will ich nicht dienen. Das können andere übernehmen. Rudolf ist der Richtige dafür. Soll er sein Lebtag lang die Akten tragen und sich von ihrem Staub ernähren. Einem Pfaffen wie dem Kurfürsten folge ich nicht.“ – „Sprich nicht so vom Kurfürsten! Sprich nicht in solch einem rauen Ton von deinem Landesherren und Ernährer!“ – „Ich pfeife auf einen solchen Ernährer! Was habe ich mit ihm zu schaffen? Besser wär’s, er träte ab und ließe dem Volk, was vom Volk kommt.“
Der Vater war vollends zornig geworden: „Ich sehe schon, dass man dir dort, von wo du kommst, den Kopf verdreht hat. Warum musste es Leipzig sein, warum konntest du nicht nach Wien gehen? Was für Ideen du mit nach Hause bringst!“ – „Es ist doch völlig gleichgültig, wo ich gewesen bin. Überall pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die Alten gehen müssen. Nur dieses unselige Nest hat es noch nicht gelernt. Hier ist alles so erstarrt. Aber warte nur, bald wird es mit der ganzen modrigen Herrlichkeit zu Ende sein. Es ist nicht mehr lange hin, dann gibt es auch kein Reichskammergericht mehr …“
Hier setzte es ganz plötzlich eine schallende Ohrfeige, wie sie der Vater so gerne austeilte. Dennoch überraschte sie Kilian im ersten Moment. Er betastete seine Wange, wich Bonifazens Blick aus und setzte sich neben die Akten, die von Rudolf auf die lange Bank geschoben worden waren.
Kilian hatte geahnt, dass es nicht leicht sein würde zu widersprechen. Aber er wusste auch, dass nur auf diesem Wege die Front deutlich, dass nur so allen Schauspielereien ein Ende gemacht werden könnte. Der Vater litt wieder unter seinen unregelmäßigen Lungenstößen. Er sagte leise und mit kaum erholter Stimme: „Der, welcher flucht, ist schon verflucht. Überall dieses Revolutionsgeschwätz. Nicht einmal dem eigenen Sohn ist noch zu trauen. Auf Schritt und Tritt wird man verfolgt. Die Masse mordet langsam ihren König, wie es in Frankreich geschehen ist. Heute hat mich ein Schreiben aus der Hauptstadt erreicht“, Bonifaz Kramer zog ein Schriftstück unter den Akten hervor, „man weiß sich dort nicht mehr zu helfen. Die Stadt verschanzt sich. Die Franzosen sind im Anmarsch und stoßen von Süden vor. Nicht einmal der eigene Sohn …“
Die Weinerlichkeit des dicken Alten in seinem morschen Sessel widerte Kilian an. Die Nachricht überraschte ihn kaum. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Revolution auf das deutsche Nachbarland übergreifen musste, bis die Rheinstädte in Bedrängnis gerieten und in äußerster Gefahr waren.
„Und ich soll dem Kurfürsten dienen? Nein, auf der Seite der Verlierer werde ich nicht stehen. Lass Rudolf das machen, dem steht das Pfaffenwappen ausgezeichnet. Ich wähle mir den besseren Teil.“ – „Ich weiß, dass du Rudolf noch nie recht gut leiden konntest …“ –