Kilian hielt an und rang nach Atem. Der Himmel riss an einer kleinen Stelle auf. Die Sonne drang hindurch und beleuchtete die Steine. Die Türme glänzten silbrig. Die Mauern schimmerten rötlich. Das Gebälk der Häuser blinkte in allen Farben des Regenbogens. Mit den letzten Strahlen des Tages legte die Sonne ihren schwachen Schein um die Siedlung und markierte das Ziel. Für einen Augenblick staunte Kilian, dankte für die glückliche Ankunft und spürte, wie jede Beklemmung von ihm wich.
Freudig rannte er von der Anhöhe hinunter und rief dem Flößer zu: „Hol über, hol über!“ Dieser hatte bereits begonnen, seine Fähre am anderen Ufer zu vertauen und sein Tagwerk zu beenden. Kilian aber rief aus Leibeskräften: „Hol über, hol über!“, und winkte mit seinem Hut und den letzten Münzen, die er besaß und mühsam aus den Tiefen der schäbigen Rocktasche gekramt hatte. Der Flößer schaute mürrisch drein. Dennoch stemmte er noch einmal das Ruder, ließ es zu Wasser, setzte das Floß in Bewegung und holte Kilian vom anderen Ufer. Als dieser die Fähre betrat, verschloss sich der Himmel, sodass sich Türme, Mauern und Gebälk vor seinen Augen wieder eintrübten. Wie er sich auf den Fluten der Heimat näherte und wie es bis zum anderen Ufer nur noch einige wenige Meter waren, da überkam ihn die Ahnung, dass er in dieser Stadt wohl nicht selig werden würde.
II
Mit seiner Ankunft wurde gerechnet. Sie war brieflich angekündigt worden, sodass alles bereitet werden konnte. Die Schlafstatt war eingerichtet, neue Kleidung geschneidert. Man hatte den Hausstand herausgeputzt und wollte mit einem festlichen Mahl den Absolventen willkommen heißen. Die überglückliche Mutter vertraute Kilian nach herzlicher Begrüßung zuerst der Obhut der Magd an. Das zarte junge Mädchen, Barbara mit Namen, geleitete ihn zum Bade, wo er sich seiner Kleider entledigte und unter ihrer Aufsicht in den mit heißem Wasser gefüllten, eisernen Zuber stieg. Das Mädchen schaute verlegen drein und bemühte sich redlich, ihm bei der Handreichung verschiedenster Utensilien behilflich zu sein, wobei sie den Blick auf den Boden geheftet hielt, aber nicht, ohne von Zeit zu Zeit aus den Augenwinkeln auf ihren jungen Herrn zu schielen.
Kilian kratzte all den Dreck von sich ab. Er rasierte sich gründlich und gab seinem leicht gelockten Haar den rötlich-blonden Glanz zurück, auf den er so viel hielt. Auf das Gesicht der Magd zauberte sich im Laufe der Verwandlung ein Lächeln, das er, sobald er es bemerkte, eindringlich erwiderte. Er war sich bewusst, dass er ein einnehmendes Wesen besaß. Er hatte seine Wirkung auf das Weibliche in Leipzig von Beginn an in Wort und Tat exerziert. Das Mädchen, das noch keine achtzehn sein mochte und in den Haushalt bei seiner Abreise noch nicht eingetreten war, errötete, als er dem Bade entstieg, um seinen sauberen Körper im Spiegel zu betrachten und seine Glieder zu trocknen. Die neue Kleidung, die er anlegte, konnte die schöne Erscheinung allenfalls unterstreichen, doch keineswegs schmücken. Er streifte sie über, die Kniebundhose, das Leinenhemd, die Weste und den bestickten, samtenen Rock, fühlte sich zufrieden und erfrischt. Er freute sich, seine strapaziöse Reise endgültig hinter sich gebracht zu haben, und vergaß ihre Mühsal. Die Lumpen, die er getragen hatte, ließ er auf dem Boden liegen, strich sich, während er sein Gesicht noch einmal im Spiegel betrachtete, über die glatt rasierten Wangen und schritt hinaus, während die verwirrte Magd geschäftig begann, die Spuren des Bades zu beseitigen.
Noch bevor sich Kilian an seine Familie wenden konnte, wurde er von der Mutter wieder weggeschickt. Der Vater musste der Erste sein, dem er sich mitteilte. Schultheiß Kramer befinde sich jedoch, trotz der fortgeschrittenen Stunde, noch immer in der Amtsstube. Kilian gehorchte, verließ das Haus ohne Zögern und überquerte den Marktplatz, der schon ganz in eine verlassene Nachtstimmung getaucht war. Er ging ins Fachwerkrathaus hinein und eilte die breite hölzerne Treppe hinauf. Die Diele des Oberstocks war schlecht beleuchtet. Nur wenige Öllämpchen brannten.
Ihm war angst und bange vor dem Zusammentreffen mit dem Vater. Die Strenge dieses Mannes hatte er täglich ertragen müssen, hatte sich als Kind ständig examinieren lassen, hatte sich in das Studium der Rechte treiben lassen, obgleich er es vorzugsweise mit der Philosophie hielt. Vor der Tür wartete er einen Moment, atmete tief ein und nahm seinen Mut zusammen. Ohne anzuklopfen trat er schnellen Schrittes in die Amtsstube ein.
Der Vater thronte an einem unaufgeräumten Tisch. Er las, indem er, aufgrund starker Kurzsichtigkeit, mit der Nase beinahe die Papiere berührte. An den Wänden prangten eng beieinander die Porträts seiner Amtsvorgänger. Gerade noch ein schmales Plätzchen blieb für ein einziges Bildnis übrig. Dem Eintretenden war, als habe für die Vertäfelung des Raumes ein ganzer Zirbenhain abgeholzt werden müssen.
Bonifaz Kramer schreckte auf, erhob sich und ging gemessenen Schrittes auf seinen Sohn zu. Er begrüßte ihn, indem er stumm und fest Kilians Oberarme drückte. Der Sohn überragte den Vater um einen Kopf, dafür konnte er es in der Breite mit jenem nicht aufnehmen. Kilian sagte nur: „Vater!“, und seine Stimme vibrierte vor Rührung und Angst zugleich. Bonifaz antwortete: „Sei gegrüßt, mein Lieber.“ Sogleich verfiel er in ein schweres Husten und krümmte sich, während er mit der flachen Hand auf seine Brust schlug. Kilian rührte sich nicht. Bonifazens Lungenflügel befanden sich seit geraumer Zeit in unbefriedigendem Zustand. Besonders in erregenden Augenblicken versagten sie ihren Dienst, und der daraus folgende Husten ließ den dicken Rumpf in unregelmäßigen Stößen beben. Das erste Wiedersehen mit dem Sohn nach vier Jahren war ein solcher Moment. Der Vater fand nur mühsam in seinen Schultheißensessel hinein. Erst hier kehrten seine Atmungsorgane zu regelmäßiger Arbeit zurück: „Wie ist es dir ergangen in Leipzig? Deine Briefe habe ich gelesen, aber sage es mir noch einmal: Wie ist es dir ergangen?“ – „Soweit gut. Was möchtest du hören?“ – „Nun ja, wie ist das mit dem Studium? Studiert es sich gut in Leipzig?“ – „Allerdings, ich wüsste nichts Besseres.“
Das Gespräch stockte. Bonifaz tat sich mit dem Menschlichen schwer. Er wirkte in Fällen persönlicher Betroffenheit unbeholfen, eine Unbeholfenheit, deren Kehrseite eine vollkommene Beherrschung des Geschäftlichen war. Nur das Lungenrasseln verriet hinter der mechanischen Pflichterfüllung den im Gefühl Getroffenen.
Dass es so bedenklich im Hals seines Vaters schepperte, erfüllte Kilian mit Genugtuung. Nicht ohne Eitelkeit nahm er den Dreispitz unter den Arm und holte die Lizenziatsurkunde aus seinem bestickten Rock hervor, legte sie auf den Amtstisch und trat wieder einen respektvollen Schritt zurück. Der Vater hielt sie dicht vor die Augen, studierte den lateinischen Text und krümmte sich erneut, als ihn der Husten überkam. Kilian regte sich nicht. Er stand steif da, nahm seine Urkunde wieder an sich und steckte sie zurück in die Tasche. Nachdem der Husten des Vaters abgeklungen war, sprach er: „Sehr gut. Du hast Deine Aufgabe erfüllt. Nun können die großen Dinge kommen. Der Kurfürst wird erstaunt sein und dich bald unter seinen Dienstleuten wissen wollen.“
Diese Worte hatte Kilian erwartet. Nun ging es darum, sich menschlich stramm zu halten: „Vater, muss ich denn des Kurfürsten Diener werden?“ – „Selbstverständlich. Das war von Anfang an der Sinn des Unterfangens. Rechtsgelehrte braucht der vernünftige Staat heute mehr denn je. Herrlich, ich male mir aus, was aus dir werden wird, wenn du ein wenig dein Scherflein beisteuerst … Mein Sohn eines Tages als Reichskammergerichtsrat …“ Ein kindliches Lächeln legte sich auf Bonifazens Gesicht.
Kilian ließ sich auf die Bank niedersinken und sah seinem Vater in die Augen. Bonifaz verlor sein glückliches Kindergesicht und ordnete verlegen die Akten auf dem Tisch. „Dem Kurfürsten kann ich nicht dienen.“ – „Oh doch, du kannst es! Was sollte dich daran hindern? Du bist ein Landeskind, entspringst dem Patriziat der Stadt und bist dem hohen Herrn schon dem Namen nach ein Begriff, dafür habe ich gesorgt. Was also sollte dich hindern, ihm zu dienen?“ Kilian begann, seinen Dreispitz in den Händen zu kneten: „Vater, wenn ich eines nicht möchte, dann ist es ein Leben als Amtmann im Dienst des Kurfürsten. Es sind nicht meine Fähigkeiten, die mich hindern, sondern …“, hier stockte er. Der Vater fragte ernst: „Was ,sondern‘?“ Kilian holte Luft und stammelte: „… sondern mein Wille hindert mich daran, mich in die Fänge eines Pfaffen zu begeben.“
Sein Widerspruch war lange geplant. Kilian hatte ihn so manche Nacht in seiner Leipziger