Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulf Kramer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347132986
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meines Bruders, das sie nach wie vor auf ihrer Brust trägt, an meiner unverhältnismäßig teuren Übergangsjacke abwischt. So sanft wie möglich schubse ich sie weg. Alina taumelt einen Meter nach hinten, Linus springt nach vorn, um sie zu halten, aber sie wehrt ihn ab. Sie ist jung und durchtrainiert – wenn auch nicht vom Badminton –, einen kleinen Stoß kann sie ab.

      Die Klingel ertönt.

      »Eure Ente ist da«, sage ich. »Süß sauer. Lecker. Lecker. Lasst es euch schmecken.«

      Ich verlasse das Schlafzimmer. Im Flur sehe ich Alinas Slip liegen. Die beiden hatten richtig Spaß und dann komme ich und mache alles kaputt. Wie ärgerlich. Im Treppenhaus begegne ich einem Mädchen mit zwei Tüten unter den Arm geklemmt. Anhand der Aufschrift identifiziere ich den Mongolen aus meiner Straße, bei dem Alina und ich jeden Sonntag bestellen. Ein bisschen Vertrautheit scheint sie auch in Linus‘ Armen zu brauchen.

       Laurenz

      Das blonde Mädchen musste etwa in seinem Alter sein und sah reizend aus, auch wenn selbst ein Blinder mit einem Krückstock sie fünf Meilen gegen den Wind als Westdeutsche identifiziert hätte. Er folgte ihm mit genügend Abstand durch die Dunkelheit, um nicht aufzufallen. Zum ersten Mal hatte er es vor zwei Monaten nach einem Besuch bei seinem Vater gesehen. Es hatte zusammen mit seiner Mutter Maria im engen Wohnzimmer seines Vaters Josef auf dem Sofa gehockt und ein Buch gelesen. Die Blechtrommel. Westliteratur. Was auch sonst. Das Mädchen hatte ihn nicht einmal wahrgenommen, während er stumm an der Wohnungstür gestanden und gewartet hatte, bis sein Vater ihm zwanzig Ostmark gegeben hatte, damit er wieder verschwand. Das wären Mafiamethoden, hatte sich sein Vater beschwert, aber das kümmerte Laurenz nicht. Seit sich Josef von seiner Mutter getrennt hatte, war er für ihn nicht mehr als sein Erzeuger. Und der Grund für die Scheidung saß neben dem blonden Mädchen auf dem Sofa und aß Kirschkuchen mit Streuseln.

      Laurenz wusste nicht, woher sich Maria und Josef kannten. Er vermutete, es hatte etwas mit dem Krieg zu tun, zumindest meinte er sich erinnern zu können, dass sein Vater einmal so etwas erwähnt hatte. Laurenz traute sich nicht, weiter nachzufragen. Er war sogar froh, nicht länger mit seinem Vater unter einem Dach leben zu müssen. Obwohl Josef ihm nie etwas getan hatte, fürchtete er sich vor ihm. Er konnte das nicht begründen, es war nicht mehr als ein unbestimmtes Gefühl. Er erinnerte sich an das Gespräch vor einigen Wochen, dem letzten längeren, welches sie geführt hatten. Laurenz hatte seinem Vater von dem Achtzehnjährigen erzählt, der bei einem Fluchtversuch in Berlin angeschossen und eine Stunde schreiend im Todesstreifen liegen gelassen worden war, bis er schließlich verblutet war. Sein Vater hatte ihn daraufhin als einfältigen Trottel beschimpft, der heimlich Westfernsehen schaue und imperialistischen Dreck Glauben schenkte. Natürlich hatten sie beide gewusst, dass die Geschichte mit dem jungen Republikflüchtling der Wahrheit entsprach, das hatte sich inzwischen selbst in der DDR herumgesprochen, aber trotzdem hatte sein Vater so getan, als käme es einem Volksverrat nahe, stellte man sich gegen die offizielle DDR-Lesart der Geschehnisse.

      Ihm fiel auf, dass er nicht einmal den Namen des Mädchens kannte. Es ging schnellen Schrittes Richtung Innenstadt, ohne sich einmal umzudrehen. Laurenz hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten und dabei möglichst unauffällig zu wirken. Nach einigen Minuten bog es rechts ab in eine dunkle Gasse. Als Laurenz die schmale Straße erreichte, war das Mädchen verschwunden. Links befand sich ein bekannter Jugendclub, in den einige von Laurenz’ Klassenkameraden gingen. Er war noch nie hier gewesen. Unsicher betrat er den Club. Am Eingang lungerten einige ältere Jungs herum und beäugten ihn misstrauisch. Er ignorierte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und betrat den Laden, der ihm wie eine Mischung aus einem geschmacklos eingerichteten Wohnzimmer und einer ranzigen Lagerhalle vorkam. Die meisten Besucher waren älter als er und nicht besonders gut gelaunt. Es wurde mäßig getrunken und viel diskutiert. An der Theke holte er sich ein Sternburg-Bier. Es kostete 80 Pfennig. Er hatte bisher nur selten Bier getrunken, schließlich war er gerade erst sechzehn. Einige seiner Altersgenossen trafen sich gern privat und bedienten sich dann an den Vorräten ihrer Eltern, aber da machte er nicht mit.

      Das Bier war zu warm und schmeckte bitter und pappig. Trotzdem trank er diszipliniert. Das war die preußische Seele in ihm. Pünktlich, aufrecht, tapfer und durch nichts zu erschüttern. Die Deutschen machten keine halben Sachen. Sie errichteten Mauern, wenn es sein musste, um sich gegen die Feinde aus den eigenen Reihen zu schützen. Oder um sich selbst einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen – je nach Sichtweise oder Parteibuch. Sein Volk führte auch gern Krieg und vernichtete Menschen, nur dass darüber heute niemand mehr sprach oder es den Westdeutschen in die Schuhe geschoben wurde. Die wurden als Verlierer der Geschichte bezeichnet, sie selbst im Osten gehörten zu den Gewinnern. Dabei hatte 1933 – als in Deutschland plötzlich Stahl ein jedermanns Lieblingsmaterial geworden war und alle nur noch von Größe, Rasse und Reinheit gesprochen hatten – die Menschheit als Ganzes verloren. In diesem Punkt war er sich sogar mit seinem Vater einig.

      Auf der anderen Seite der Tanzfläche entdeckte er das Mädchen aus dem Westen. Es hielt ebenfalls ein Sternburg in der Hand und unterhielt sich mit einem älteren Jungen. Laurenz spürte Eifersucht. Er hatte sich noch nie so sehr für jemanden interessiert. Als der Junge ging, nahm er sein Herz in die Hand und stellte sich neben das Mädchen. Es musterte ihn neugierig.

      »Was ist das für ein Tanz?«, fragte es.

      Er betrachtete die Gäste, die zu langweiliger Musik albern durch den Raum hoppelten. »Das ist Lipsi«, sagte er.

      »Ach so, klar.«

      »Den Tanz hat unser Politbüro erfunden.«

      »Sowieso.«

      »Bist du aus dem Westen oder was?«

      Das Mädchen schaute weg und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche. Anscheinend wollte es nicht gern als Klassenfeindin enttarnt werden.

      »Ordentlicher Zug für ein Mädchen«, sagte er und lächelte.

      »Scheiß Spruch für einen Jungen«, antwortete es und schaute ihm zum ersten Mal richtig ins Gesicht.

      »Ich heiße Laurenz«, sagte er.

      »Greta.«

      Er grinste und hielt ihr sein Bier entgegen.

      »Was soll das jetzt bedeuten?«, fragte Greta verwirrt.

      »Ich will mit dir anstoßen. Auf die deutsch-deutsche Freundschaft.«

      Sie ließ ihre Flasche vorsichtig gegen seine prallen. Es klirrte leise.

      »Greta ist ein schöner Name«, sagte Laurenz.

      »Danke. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.«

      »Und deine Haare duften total. Das ist bestimmt Westseife.«

      Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist Westhaar.«

      »Eingebildet biste ja gar nicht, oder?«

      »Sind wir drüben doch alle.«

      »Stimmt auch wieder.«

      Eine Band begann zu spielen. Ein Schlagzeuger, ein Bassist und eine Frau an der Gitarre haspelten sich durch Jamaica Farewell von Harry Belafonte. Obwohl die Band schlecht war, gefiel es Laurenz. Er mochte Musik aus dem Westen. »Die spielen ganz viel verbotenes Zeug«, rief er.

      »Haben die Musiker keine Sorge, dass die erwischt werden?«

      Er zuckte mit den Schultern. »Anscheinend nicht. Wenn sie die Musik lieben, dann sollten sie die auch spielen.«

      »Das sieht wahrscheinlich nicht jeder so, oder?«

      »Der Mielke kann ja schlecht überall seine Ohren haben.«

      Greta antwortete nicht.

      »Mielke ist der Leiter des MfS«, erklärte Laurenz. »MfS heißt Ministerium für Staats…«

      »Ich weiß wer das ist und was das heißt«, unterbrach sie ihn schroff. »Nur weil ich aus dem Westen komme und ein Mädchen bin, bedeutet das nicht, dass ich keine Ahnung habe.«

      Laurenz schwieg. Er kannte es nicht, so