Als endlich die Sanitäter und der Notarzt kommen, verschwindet meine Mutter im Wohnzimmer. Die Männer untersuchen Laurenz vorsichtig, verbinden seine Wunde, legen ihm eine Halsmanschette an und verfrachten ihn auf eine Trage. Währenddessen kommt auch die Polizei, die routinemäßig mit dem Notruf vom Krankenhaus verständigt worden ist. Ein dicker Chefbulle befragt mich. Ich mache von meinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, um meine Mutter nicht zu belasten. Das übernimmt sie dann selbst, in dem sie gesteht, Laurenz mit einer Pfanne niedergeschlagen zu haben. Mehr sagt sie nicht. Die Polizisten verhaften sie und nehmen sie mit. Einfach so. Keine großen Worte. Kein großes Drama. Kein Widerstand durch meine Mutter. Sie lässt es geschehen. Ich weiß nicht, ob ich vor Wut rasen oder verzweifeln soll. Die Beamten werfen mich aus der Wohnung, die als Tatort gesichert wird. Es handele sich womöglich um versuchten Mord, höre ich eine Polizistin durch ein altmodisches Funkgerät sagen, als ich die Treppe hinunter in den Innenhof gehe. Es sind genau einundzwanzig Stufen, das habe ich während meiner Kindheit hunderte Male gezählt. Immer und immer wieder einundzwanzig. In diesem Moment hätte es mich nicht gewundert, wären es plötzlich mehr oder weniger gewesen.
Ich schaue den beiden Wagen nach, während sie langsam davonrollen. In einem sitzt meine Mutter. Dann wird es still. Die Straße liegt menschenleer vor mir, nicht mal Vogelgezwitscher ist zu hören. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Ich rufe Alina an, die sich nicht meldet. Montags geht sie zum Badminton und danach mit ihrer Freundin etwas trinken. Währenddessen schaltet sie für gewöhnlich das Handy aus. Ich versuche es bei meinem Bruder. Er nimmt nicht ab. Wir verstehen uns nicht besonders, aber in Momenten wie heute halten Brüder zusammen. Dafür gibt es Familie. Solange meine Freundin nicht zu erreichen ist, stellt Linus eine Art natürlichen Ansprechpartner für Notsituationen dar.
Ich gehe die Straße Richtung Norden bis zum Axtbrecher-Komplex, einer modernen Wohnanlage, in die Linus vor einigen Jahren gezogen ist. Ich bin eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, zuletzt zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag. Kaum habe ich geklingelt, springt die Tür zum Hausflur auf. Oben ist die Wohnungstür nur angelehnt. Irgendetwas stimmt nicht. Dass Linus zuhause ist, nicht ans Telefon geht, aber ohne Nachfrage alle Türen öffnet, erscheint verdächtig. Er ist nicht der Typ, der Fremde mit offenen Armen empfängt. Sein erster Gedanke ist für gewöhnlich, was ihm weggenommen werden könnte. Ich weiß nicht, woher er das hat. Sowohl meine Mutter als auch meine Schwester Anna sind ganz anders als er.
»Das ging aber schnell«, ruft Linus aus dem Schlafzimmer. »Ich hole das Geld, kleinen Moment.«
Er erwartet den Lieferservice, denke ich. Linus steht auf chinesische Küche, vielleicht eine Art Ausgleich zu unserem Laden, der RegioCulina, in der wir regionale Feinkost verkaufen.
»Bin gleich da«, singt Linus mit hoher Stimme.
Ich komme ihm zuvor und drücke die Tür zum Schlafzimmer auf. Linus steht im Bademantel vor mir und lässt sein Portemonnaie auf den Boden fallen. Einige Münzen rollen klirrend über den Parkettboden. Ich schaue nach unten und sehe den runden Metallstücken zu, die durch den Raum kullern. Mein Blick wandert zum Fernseher, auf dem tonlos ein Film läuft, in dem eine Frau von zwei Männern gleichzeitig penetriert wird. Auf der Fensterbank darüber stehen ein Dutzend brennende Kerzen, dazwischen ein Kaktus. Im ganzen Schlafzimmer ist es schrecklich heiß und miefig. Die Frau im Film streckt ihren Hintern in Richtung Kamera. Über ihr ist ein riesiger Penis zu sehen. Ich finde Pornos ekelig, allerdings behalte ich das für mich, weil man mit solchen Ansichten unter Männern schnell als verklemmt gilt. Meine Vorstellung von Erotik ist anders, aber ich bin anscheinend seltsam sozialisiert. Viele mögen Pornos, sonst gäbe es sie nicht. Das nennt man Angebot und Nachfrage. Nicht ganz eindeutig ist, zu welcher Seite meine Freundin Alina zählt. Gehört sie zum Angebot oder bestimmt sie die Nachfrage? Mir gegenüber hat sie behauptet, Sex auf dem Bildschirm sei ihr zu unrealistisch. Deshalb haben wir nie zusammen einen Porno geguckt. Jetzt liegt sie nackt auf dem Bett. Ihr Haar ist schweißnass. Auf ihrer Brust klebt Sperma. Im Fernsehen wird gerammelt. In mir keimt der Verdacht, Alina könnte es mit der Ehrlichkeit nicht allzu genau nehmen. Wahrscheinlich spielt sie gar kein Badminton. Einen Schläger habe ich in unserer Wohnung noch nie gesehen. Für Sex braucht man keine Spielgeräte. Und sie trainiert nicht mit ihrer Freundin, sondern mit meinem Bruder. Sicher deponiert er seine Spermien bei Bedarf auch an anderen Orten als auf ihren Brüsten.
Ich starre auf eine Zwei-Euro-Münze vor meinem Fuß, meine Lieblingsmünze, nicht weil sie die wertvollste ist, sondern weil sie gut in der Hand liegt. Deshalb mag ich auch die kleinen, dicken Ein-Pfund-Münzen, mit denen ich in London bezahlt habe, als ich damals Lejla besuchte. Lejla. Ich habe mir eingeredet, in meiner Beziehung zu Alina sei kein Raum für sie – nicht mal in meinen Gedanken. Betrachte ich die Orgie aus Porno, Sperma, kitschigen Kerzen und Kleingeld, könnte das ein Fehler gewesen sein.
»Das ist jetzt schon eine Überraschung«, sage ich und kicke die Münze unter das Bett.
»Fuck …«, sagt Alina hockt sich auf die Knie, was es nicht besser macht, weil ich sie jetzt deutlicher sehen kann. Sie ist schön, aber leider verbraucht – auch wenn das fies klingt.
»Ja, das passt wohl«, bemerke ich lapidar.
»Mann, was machst du …«, brabbelt Linus hilflos.
»Wollte mal vorbeischauen, weil Alina beim Badminton ist.«
Ich wundere mich, wie ruhig ich bleibe. Der Kindergeburtstag am Nachmittag hat mich mehr aus der Fassung gebracht. An meinem Schuh klebt nach wie vor die Marmelade. Erdbeer-Mango. Was ist bloß aus der Welt geworden, dass Kinder so etwas essen? Alina mag keine Marmelade. Aber sie steht angeblich auch nicht auf Pornos und hat sich von mir nie mit Sperma bespritzen lassen. Wahrscheinlich isst sie heimlich Marmelade aus dem Glas. Mit den Fingern. Ich senke den Blick. Auf dem Boden neben einem weiteren Geldstück liegen zwei benutzte Kondome. Addiere ich die Spuren auf Alina, komme ich auf drei.
»Junge, du kommst doch sonst auch nicht unangemeldet. Wir haben doch alle Handys und können …«
»Halt die Fresse, Linus«, sage ich kopfschüttelnd.
Die Redewendung Junge hat er sich innerhalb des letzten Jahres angewöhnt. Mit Sprache hat er es nicht so. Wahrscheinlich denkt er, es wäre cool, wie ein Teenager zu sprechen. So kriegt er Frauen rum. Der Erfolg gibt ihm recht. Junge, Alina zu ficken ist echt töfte. Obwohl töfte heute kaum noch einer sagt und Linus ganz sicher nicht. Der Begriff ficken würde ihm stehen, denn das, was die beiden hier treiben, hat nichts mit Gefühlen zu tun, dafür kenne ich Alina zu gut. Sie empfindet nichts für Linus, ihr geht es um etwas anderes. Aber das ist belanglos. Alina ist Geschichte. Manchmal kann man nicht mehr zurück, so wie meine Mutter mit ihrer Pfanne.
»Jetzt bleib locker. Wir müssen reden, Tankred«, sagt Linus.
Ich habe keine Ahnung, worüber er angesichts dieser perfekt inszenierten Groteske mit mir reden möchte. Alina klettert aus dem Bett, allerdings scheint sie nicht zu wissen, was sie als nächstes tun soll. Verloren steht sie zwischen Linus und mir im Niemandsland und schaut abwechselnd zu ihm, zu mir und auf den Boden. Ich frage mich, warum sie sich nicht etwas überzieht, das könnte ihre Würde ansatzweise erhalten.
»Mama ist verhaftet worden«, sage ich zu Alina. »Und weil du beim Badminton bist, habe ich gehofft, mit Linus darüber sprechen zu können.«
»Wie? Verhaftet?«, fragt er.
»Sie hat Laurenz ins Koma geprügelt.«
Die Worte klingen absurd, passen aber gut in den Raum.
»Was soll das? Spinnst du jetzt? Verhaftet? Koma?«, ruft Linus.
»Sie beschuldigen sie des Totschlags oder Mordes oder was weiß ich.«
»Scheiße, das tut mir leid«, murmelt Alina und nimmt