Die Sache mit Mathew erledigte sich dann von allein, als ihre Gastfamilie von ihm erfuhr. Nun erst wurde Anna bewusst, bei Rassisten zu leben, denn sie verbaten ihr unter Androhung, sie aus dem Haus zu werfen, jeden weiteren Umgang mit einem Nigger. Anscheinend wünschten sich diese Leute zurück in eine Zeit, als Schwarze noch so bezeichnet wurden und Weiße im Bus die besseren Plätze bekamen oder in Restaurants alleine saßen. Vielleicht träumten sie sogar von der ein oder anderen Negersklavin, die ihnen den Rasen mähte, die Wäsche machte und sich vom Hausherren vergewaltigen ließ. Anna wurde sich zum ersten Mal der ganzen Schwere und Grausamkeit der Geschichte der Südstaaten bewusst. Das Land der Freien und die Heimat der Mutigen, die zusammen Millionen Menschen versklavt und wahrscheinlich ebenso viele Indianer ausgerottet hatten. Anscheinend war der Stolz und die Glorie der einen stets gleichbedeutend mit dem Leiden der anderen. Das war eine Lektion, die sie in den USA gelernt hatte.
Wieder zuhause musste sie feststellen, dass sich die Bonner Straße während ihrer Abwesenheit stark verändert hatte. Linus war ausgezogen – ein zu verschmerzender Umstand –, dafür lebte das Flüchtlingsmädchen Lejla bei ihnen und Tankred hatte sich überflüssigerweise Hals über Kopf in sie verliebt. Anna spürte bereits am Tag ihrer Rückkehr, dass das nicht gut gehen konnte. Alles drehte sich um Lejla. Ihre Mutter sorgte sich um sie, als handelte es sich bei ihr um einen zarten Hundewelpen, der gerade aus den Fängen grausamer Tierquäler gerettet worden war. Hat Lejla Heimweh? Wie lange kann Lejla bleiben? Wie geht es Lejlas Familie? Fühlt sich Lejla auch wohl? Was möchte Lejla zum Frühstück? Hat Lejla gut gekackt? Anscheinend bemerkte außer ihr niemand, wie das doofe Mädchen alle um den Finger gewickelt hatte.
Dann wurde sie von Lejla mit einer Tüte Marihuana am See erwischt. Sie stand von der einen Sekunde auf die andere vor ihr und grinste sie von oben herab an. Anna wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Lejla eine gelangt. Stattdessen zog sie an ihrem Joint und hielt ihn anschließend Lejla hin.
»Ich kiffe nicht«, sagte sie.
»Solltest du aber. Vielleicht macht dich das lockerer.«
Lejla schüttelte den Kopf.
»Wirst du es meiner Mutter erzählen?«, fragte Anna.
»Möchtest du das?«
»Blöde Frage.«
»Es würde dir nicht gefallen, mir einen Gefallen zu schulden, oder?«
Anna schaute Lejla in die Augen. Auf dem See tuckerte ein Ausflugsdampfer vorbei. »Wundert dich das?«
»Was hast du eigentlich gegen mich?«, fragte Lejla und setzte sich eine Sonnenbrille auf.
»Du saugst dich in meine Familie.«
Lejla lachte arrogant. Anna presste ihre Hände zu Fäusten.
»Du brauchst keine Angst haben, ich sage nichts.«
»Auch nicht Tankred?«
»Deine Entscheidung.«
Anna betrachtete das langsam vorbeiziehende Schiff. Auf den Bänken hockten ein paar Touristen. »Was willst du von mir, wenn du nichts sagst?«
»Du schuldest mir nichts, Anna«, entgegnete Lejla und drehte sich zum Gehen. »Ihr habt mir geholfen, also helfe ich dir.«
Anna drückte den Joint in die Wiese, auf der sie saß. In der Luft hingen die Abgase des Dieselmotors des Schiffes.
Zum Glück erwiesen sich kurz darauf die Kroaten im Massakrieren der Gegner als die Besseren, vertrieben ihre Feinde aus Dubrovnik und Umgebung und ebneten so Lejlas Rückkehr nach Hause. Zur Mitte der Sommerferien 1992 verschwand sie endlich aus der Bonner Straße. Anna war erleichtert, Tankred fiel in ein Loch ohne Boden. Ihr war das egal, Liebeskummer musste man aushalten.
Mission
Kaum ist KOK Termoltke verschwunden, da geht erneut die Klingel. Ich komme mir vor wie auf dem Jahrmarkt. Ein lästiger Kunde nach dem anderen. Wer könnte es diesmal sein? Hat die Polizistin etwas vergessen, möchte mich Linus um Entschuldigung bitten, hat sich Lejla nach fünf Jahren endlich entschlossen, meinen Trotz zu ignorieren und zu mir zu kommen? Draußen stehen zwei Männer, einer älter als ich, einer wesentlich jünger. Beide tragen Anzüge und akkurate Kurzhaarfrisuren. Ich frohlocke. Die kommen mir gerade recht, denn diese unglückseligen Kreaturen tappen in die Fänge meiner Frustration.
»Wir sind …«, beginnt der Jüngere zu reden.
Zeugen Jehovas, beende ich den Satz in Gedanken, ohne weiter zuzuhören, weil es mir vollkommen egal ist, was er zu sagen hat. Er könnte mir leidtun, weil es eine Menge Leute gibt, die nicht klarkommen und sich am Rand einnisten, um dort in ihrer eigenen Burg aus Gott, Nation, Fußball oder anderen Fantasien Zuflucht zu nehmen. Oder sie wenden sich emotional vereinsamt dem Alkohol als Mittel des kollektiven Eskapismus zu, um zumindest in saufender Gesellschaft allein zu sein. Das ist mir sympathischer als ein metaphysischer Mythos. Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Einer der Tophits von Luther, kennen sogar katholisch sozialisierte und inzwischen entkirchlichte Antichristen wie ich. Ich kann Burgen nicht leiden. Wie schnell verschanzt man sich in einem prächtigen Bollwerk, linst über die Zinnen und stellt fest, ein Hinterwäldler zu sein. Dann wird es ungemütlich, weil Hinterwäldler nicht gern Hinterwäldler sind, oft spucken sie Gift und Galle und wer mag schon Dinge wie Gift – und was Galle ist, weiß wahrscheinlich ohnehin kaum jemand. Diese verlorenen Seelen vor meiner Tür begehen den Fehler, sich ausgerechnet vor der Pforte meiner metaphorischen Burg zu tummeln.
»… und morgens ist es eine Offenbarung unseren Energydrink zu trinken, weil er nicht nur den Körper, sondern auch den Geist supported. Es gibt einem Power für den ganzen Tag«, sagt der Mann und hält mir eine violette Dose vor die Nase, auf der ein Fantasiename prangt, der wahrscheinlich gut klingen möchte.
»Verkauft ihr Jehovaleute jetzt schon Limo?«, frage ich verdutzt. Anscheinend habe ich während des Vortrags des Mannes den Faden verloren. Gottesbrause als Türöffner zum Himmel. Vielleicht braucht die Sekte auch einfach nur Geld. Wäre nicht auszuschließen. Der Kapitalismus kriegt sie alle. Selbst die guten, alten Bibelforscher.
Der jüngere Mann – ich taufe ihn Limofreak – behauptet, kein Zeuge Jehovas zu sein, sondern zu einem Verein zu gehören, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Dieser sei gerade dabei, die Welt, die wir kennen, zu revolutionieren. Das überrascht mich, denn eigentlich bin ich es, der revoluzzt. Dass mir andere klammheimlich zuvorkommen wollen, passt mir überhaupt nicht in den Kram.
»Wir ermöglichen es allen Menschen, eine ganz neue Lebensqualität für sich zu finden. Sie sind nicht länger nur Konsument, sie sind Shareholder. Alle profitieren. Wir schaffen ein Movement, in dem jeder sein Developmentpotential voll ausschöpfen kann.«
Limofreak erinnert mich an Linus, der sich auch gern lächerlich macht, indem er englische Begriffe in seine Sprache einbaut. Der ältere Brauseonkel stapft angespannt von einem Bein aufs andere. Vielleicht fällt es ihm schwer, so lange zu stehen. Oder er muss aufs Klo. Hat selbst zu viel von seinem geschmacksverstärkten Sprudelwasser gesüppelt. Limofreak will eine neue Tiradensalve starten, aber ich hebe die Hand, schüttele energisch den Kopf.
»Stellen wir uns vor, zwei Jungen spielen zusammen im Garten, nennen wir sie einmal Paulus und Lothar Matthäus«, sage ich. »Zwischen ihnen liegt ein rundes Ding aus Leder.«
»Ein Fußball«, murmelt Brauseonkel und handelt sich damit einen bösen Blick seines Kompagnons ein.
»Genau!«, rufe ich vergnügt. »Also, da liegt ein Fußball zwischen den beiden und Lothar Matthäus sagt, guck mal, da ist ein Fußball.«
Limofreak schaut mich an, als habe ich den Verstand verloren.
»Paulus schüttelt mit dem Kopf«, fahre ich unbeirrt fort. »Nein, sagt er, das ist doch kein Fußball. Das ist eine Katze. Und dann Lothar Matthäus: Spinnst du? Das ist ein Fußball. Das war schon damals 1954 im Berner Wankdorfstadion ein Fußball und erst recht, als ich, also Lothar Matthäus, ihn 1990 Andi Brehme überlassen habe, damit der den entscheidenden Elfer tritt.«