»Wenn wir miteinander schlafen, ohne Kinder bekommen zu wollen, handeln wir gegen die menschliche Natur. Behaupten zumindest die Idioten, die es uns verbieten wollen.«
Er nickte. »Also eine gewisse Funktion kann man Sex …«
»Ach, halt die Klappe«, rief Greta. »Ich will mit dir schlafen, ohne schlechtes Gewissen haben zu müssen. Ich will es genießen und dabei meine Sorgen vergessen. Außerdem haben wir Menschen unsere Natur doch sowieso längst pervertiert. Kann mir doch keiner erzählen, dass es natürlich ist, in eine Blechbüchse zu steigen, um damit durch die Gegend zu fliegen. Wir sind doch keine Vögel! Oder meinst du, ich sähe einem Vogel ähnlich?« Sie grinste und warf sich neben ihm in Positur. »Ich finde, ich bin eher so eine Art Venus«, rief sie und lachte.
Er verdrehte die Augen. »Kommst du eigentlich nur für den Sex in den Osten?«
Sie ließ ihren Finger über seine nackte Brust fahren. Er hatte noch keinen Haarwuchs am Oberkörper. Das mochte sie. Männer mit starker Körperbehaarung ekelten sie. Greta wollte nicht mit halben Schimpansen ins Bett gehen.
»Gibt es denn bei euch etwas außer Sex?«
Er stieg aus dem Bett und strich sich die Haare glatt. »Wir gehen zu einem nicht lizenzierten Konzert. Dann wirst du sehen, wie viel Spaß man in der DDR haben kann.«
Sie betrachtete ihre Zehen. Sie hatte zum ersten Mal Nagellack benutzt, einen schwarzen, der sie älter machte, fand sie. »Was ist denn ein nicht lizenziertes Konzert? Klingt ja ungemein spannend.«
»Eine Beatband. Die nennen sich The Corrosion. Spielen so ein Zeug wie die Beatles.«
Sie zog den BH an und suchte neben dem Bett nach ihrer Unterhose. »Und das nennt ihr nicht lizenziert?«
Er lachte. »Das ist unseren Staatsführern nicht geheuer, weil sie Musik aus nicht sozialistischer Produktion ablehnen. Dazu gehören englische Bandnamen, ein ungepflegtes Erscheinungsbild, mangelnde Musikalität, falsche Texte. So was wird verboten. Lustig, oder? Als würden wir Jugendlichen Musik spielen wollen, die die Alten gut finden.«
»Das hat eigentlich gar nichts mit Sozialismus zu tun, sondern mit der neuen Generation.«
Laurenz grinste. »Schlaues Mädchen.«
Sie warf ihm ihre Unterhose ins Gesicht. »Sei nicht so von oben herab.«
Er ließ sich aufs Bett fallen und küsste sie. Sie spielte, als würde sie sich wehren, dabei genoss sie es, wenn er so stürmisch war. Sie zog ihm das T-Shirt über den Kopf und knöpfte ihm die Hose wieder auf. Sein Penis war bereits erigiert. Auf dem Nachttisch lagen noch zwei Mondos. Sie nestelte eines aus der Verpackung und stülpte es aus Versehen falsch herum auf Laurenz’ Eichel.
»Ihr Westtussis lernt auch gar nichts in eurer imperialistischen Schule, was?«
»Wie man Sex hat ganz sicher nicht«, sagte sie und zog ihm das Kondom richtig herum über.
Er drang eilig in sie ein. Sie spürte ihn in sich und begann zu stöhnen. Sie hatte davon gehört, vielen Mädchen fiele es schwer, einen Orgasmus zu haben. Ihr ging es anders. Mit Laurenz kam sie fast jedes Mal. Er drehte sie auf den Bauch und drückte sich von hinten an sie heran. Dass er so die Initiative ergriff, war ungewohnt. Kurz wusste sie nicht, ob er ihr zu weit ging, dann spürte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken und alles geschah so, wie sie es sich wünschte.
Später tranken sie in einer Gaststätte in der Innenstadt drei Biere, bevor sie sich in einem großen Kellerraum in der Nähe des Bahnhofs mit ungefähr fünfzig anderen Jugendlichen trafen, um The Corrosion zu sehen. Die Band bestand aus vier jungen Männern mit Jeanskleidung und Beatlesfrisuren. Die ganze Inszenierung wirkte auf Greta lächerlich unbeholfen. Die Musik war kantig, unausgegoren. Die Musiker kopierten ihre Stars aus Großbritannien so gut es ging, aber ihre Ostattitüde wurden sie nicht los. Auch das Publikum wirkte gedämpft. Obwohl fast alle tanzten, schien die Angst, erwischt zu werden, greifbar. Greta fühlte sich dennoch beschwipst, beschwingt und glücklich. Der Nachmittag mit Sex und Alkohol sowie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, euphorisierten sie. So sollten Achtzehnjährige leben. Wild, unabhängig und neugierig.
Außerdem hatte die Band ihren Vorbildern aus dem Westen eindeutig etwa voraus. The Corrosion waren richtige Rebellen, die nicht nur Parolen von sich gaben, sondern tatsächlich etwas riskierten. Die Beatles saßen in ihrem Studio in London und dudelten Liebeslieder ein. Dylan schrieb Songs über Rassismus und Gewalt. The Corrosion spielte in einem Club ein geheimes Konzert und wagten es, die Stasi herauszufordern – ohne Aussicht auf Ruhm oder Unmengen von Geld, wie es die Beatles inzwischen verdienten.
Als die vier Musiker ihr viertes oder fünftes Lied anstimmten, rempelte ein Junge von hinten Greta an und sie fiel zu Boden. Laurenz half ihr auf, als erneut zwei Konzertbesucher an ihnen vorbeidrängten. Jemand schrie etwas, einige Gäste stürmten vorwärts durch die Menge Richtung Bühne. Jemand rief Polizei, ein anderer Vopos. Laurenz packte Greta am Arm und zog sie hinter sich her Richtung Toiletten.
»Wir werden hochgenommen«, schrie er ihr durch den Tumult zu. »Bleib immer hinter mir. Es gibt einen Hinterausgang.«
Greta spürte Panik. Ihr Herz schlug wie wahnsinnig. Aus dem Augenwinkel konnte sie hinter sich Polizisten mit Schlagstöcken erkennen. Der Schlagzeuger der Band sprang von der Bühne direkt vor ihre Füße. Sie sah, wie ihm der Knöchel umknickte und hörte Knochen knacken. Der Mann kreischte auf und wandte sich vor ihr am Boden. In der einen Hand hielt er nach wie vor einen Trommelstock. Laurenz wurde von anderen Gästen Richtung Hinterausgang geschoben. Er schaute sich nicht um. Greta bückte sich und legte dem Schlagzeuger eine Hand auf die Schulter.
»Komm, ich stütze dich«, sagte sie.
»Vergiss es, Kleine!«, krächzte der Mann und deutete vor Schmerz stöhnend auf seinen Knöchel.
Der Fuß stand im rechten Winkel vom Bein ab. Greta wurde übel.
»Komm schon.«
»Verpiss dich. Mich kriegen die eh. Vielleicht kommst du noch raus.«
Sie zuckte mit den Schultern und lief. Draußen gelangte sie auf einen breiten Innenhof. Mehrere Wagen standen in der Einfahrt. Die Polizei war nicht so dumm gewesen, den Hintereingang unbewacht zu lassen. Vopos hieben willkürlich auf die Jugendlichen ein. Mehrere von ihnen lagen schreiend am Boden, einige sogar reglos. Andere wurden von den Polizisten auf zwei offene Lastwagen geworfen, als seien sie Mehlsäcke oder Strohballen. Greta schaute sich nach Laurenz um, als ein großer Mann sie packte, ihr eine Ohrfeige versetzte, die ihr kurz die Sinne raubte, sie mit seinen Pranken um die Taille fasste und zu einem LKW schleifte. Als wöge sie nichts, schleuderte er sie auf die Ladefläche, wo sie auf einem anderen Mädchen landete, das kurz aufschrie, um anschließend in ein monotones Wimmern zu verfallen.
Sie wurden in einen großen, grauen Gebäudekomplex gebracht, der architektonisch ausgezeichnet zu seiner Funktion passte. Die Gefangenen, gut ein Dutzend Jugendliche, wurden unsanft vom LKW gescheucht und voneinander getrennt. Greta fand sich kurz darauf in einem kleinen, kalten Raum ohne Fenster wieder, der von einem grellen Neonlicht beleuchtet wurde. Die Einrichtung bestand aus zwei Stühlen und einem Tisch mit einem Telefon darauf. Ihr Gesicht brannte von der Ohrfeige, sie hatte sich beim Sturz auf den Laster die Knie aufgeschürft und die Jacke zerrissen. Eine Frau in Uniform betrat den Raum und forderte sie mit einer Handbewegung auf, die Taschen zu entleeren. Greta hatte außer einer alten Fahrkarte, einem Taschentuch, ihrem Portemonnaie sowie einem Kondom, das sie in Laurenz’ Zimmer eingesteckt hatte, nichts dabei. Das Gefühl, es in der Tasche mit sich zu tragen und vielleicht in der Nacht irgendwo mit ihm zu benutzen, hatte sie aufgeregt. Die Polizistin untersuchte wortlos das Portemonnaie und nahm das Geld heraus. Das Kondom hielt sie einmal ins Licht, als wollte sie die Haltbarkeit überprüfen. Anschließend verließ sie den Raum. Greta setzte sich auf einen der Stühle. Die Frau erschien erneut und deutete ihr an, sich zu erheben. Obwohl sie nicht wusste, was geschehen würde, wenn sie sich weigerte, leistete Greta der Anweisung Folge. Sie lehnte sich an die kühle Wand. Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Erneut gehorchte