Sarah nickte. Beim Bettenmachen konnte sie sich etwas entspannen. Die Handgriffe waren gut eingespielt, und die Arbeit ging zügig voran.
Manchmal frage ich mich, ob ich den richtigen Beruf ergriffen habe“, klagte Sarah nach einer kurzen Denkpause.
„Nein, also wirklich, jetzt beginne nicht auch noch daran zu zweifeln“, entrüstete sich Fabienne. „Das ist jetzt wirklich das Absurdeste, das ich je von dir gehört habe. Ich sehe ja täglich, wie gut du deine Arbeit machst. Noch vor ein paar Tagen warst du ganz begeistert, das kann sich doch nicht einfach alles über Nacht ändern, nur wegen eines läppischen Fehlers. Wegen der ersten kleinen Schwierigkeit, wirst du doch nicht sofort die Flinte ins Korn werfen. Probleme sind da, um gelöst zu werden.“
‚Das könnte mein Vater gesagt haben‘, dachte Sarah.
„Du musst auch nicht alles so schwer nehmen. Das Wichtigste ist, du darfst dein Ziel nie aus dem Auge verlieren. Der Weg kann steinig sein, aber wenn du an dich selbst glaubst, erreichst du dein Ziel“, dozierte Fabienne und strich mit einer letzten Bewegung über das Patientenbett. Das Zimmer war wieder perfekt hergerichtet.
Sarah schaute nach irgendwo zum Fenster hinaus, zuckte mit den Schultern. ‚Es lebt sich wohl leichter, wenn man für alles eine Antwort kennt‘, dachte sie, doch für sie blieben viele Fragen offen.
Als sie das Zimmer verließen, kam ihnen Heidi auf dem Gang entgegen.
„Was gibt es Neues aus Saudi-Arabien? Hat er euch etwas mitgebracht? Hat er euch Datteln und Feigen angeboten?“, fragte Heidi.
„Die würde ich nicht mal im Traum annehmen“, sprach Sarah entschieden, schüttelte den Kopf und drehte den Spieß um.
„Sag mal Heidi, habt ihr auf eurer Station keine interessanten Patienten, dass du dich immer nach uns orientieren musst?“
„Natürlich pflege ich sehr viele interessante Leute. Meine Patienten sind in der Klinik, weil sie wirklich etwas haben und krank sind. Euer Scheich … was hat der schon? Bei uns wird man eben medizinisch gefordert. Da lernt man auch was.“
„Das freut mich für dich, Heidi, das tut dir sicher gut.“
Heidi bemerkte Sarahs Ironie nicht, denn sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
„Zum Beispiel dieser junge Patient mit der Milkenruptur“, fuhr Heidi fort. „Er hatte einen Motorradunfall und wäre beinahe an den inneren Blutungen gestorben. Im letzten Moment hat man ihm noch die Milken herausoperiert.“
„Milkenruptur? Was soll denn das sein?“, fragte Fabienne irritiert.
„Du meinst wohl die Milz“, bemerkte Sarah.
„Milz, ja das sagte ich doch.“ Heidi ließ sich keineswegs beirren. Zuweilen wirkte sie tatsächlich sehr drollig, wenn sie todernst den reinsten Unsinn von sich gab und das nicht einmal merkte. Im Gegenteil, sie kam sich dabei unheimlich wichtig vor. Und diese Diskrepanz ließ Sarah des Öftern schmunzeln.
„Ich betreue zudem seit heute eine ältere, freundlich liebenswürdige Patientin mit Schlaganfall. Sie war sogar eine ganze Woche auf der Intimstation, da sie ins Coma sutra gefallen war.“
Was gab es da noch zu sagen.
1 Visceralchirurgie: wörtlich Chirurgie der Eingeweide, Chirurgie der inneren Organe in Abgrenzung zur Traumatologie, der Unfallchirurgie.
2 Prämedikation: Medikamente, die etwas vor dem Operationsbeginn verabreicht werden, um bereits einen gewissen Zustand sowohl von Müdigkeit als auch von Gleichgültigkeit herbeizuführen damit Aufregung und Angst etwas gedämpft werden.
3 Einführen eines Plastikschläuchleins (Tubus) über Mund oder Nase in die Luftröhre zur Sicherung der Atemwege und Beatmung
Das Traumgesicht
Es gibt Tage, da spürt man schon frühmorgens, dass es ein guter Tag wird. Ich wusste es gleich um kurz nach sechs Uhr früh, als der Radiowecker Mozart spielte. Schon nach zwölf Takten fühlte ich mich fröhlich beschwingt und spürte die wiedererwachten Lebensgeister. Endlich war ich wieder ich selbst und im Vollbesitz all meiner Kräfte.
Welch ein Unterschied zum vorigen Abend!
Die Geschehnisse des Vortages waren bereits in die Ferne gerückt und belasteten mich kaum mehr. Nach Dusche und Kaffee strotzte ich geradezu vor Energie und war über meinen frühmorgendlichen Tatendrang beinahe selbst erstaunt.
Nun genoss ich mein Frühstück mit Mozart, es erklang inzwischen bereits das Rondo aus dem 3. Satz. Seit Kurzem gönnte ich mir den Luxus, ausgiebig und genüsslich zu frühstücken und nahm gerne in Kauf, etwas früher aufzustehen. An diesem Tag opferte ich gar das letzte Ei und damit war mein Kühlschrank vollständig geleert.
Im Treppenhaus geschah ein kleines Wunder. Zum ersten Male grüßte mich mein Nachbar, ein etwa gleichaltriger Bankbeamter, und wünschte mir einen guten Morgen. Wie war ich erstaunt! Monatelang hatte ich ihn gegrüßt, ohne dass er reagiert hätte. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf und gewährte ihm einem Freundlichkeitskredit mit einer Laufzeit von einem Jahr. Offenbar zahlte sich meine Investition nun aus.
Mozarts Ohrwurm verfolgte mich noch in der Straßenbahn. Und sogar auf dem Weg zum OPS pfiff ich die Melodie. Als ich die Umkleidekabine betrat, fiel mein Blick ausgerechnet auf Huber, und ich verstummte augenblicklich.
Normalerweise sprach er morgens kaum in der Garderobe, doch an diesem Tag begann er sogleich ein Gespräch über seine Katze, vermutlich, um die Kratzspuren an den Unterarmen zu rechtfertigen. Schließlich fügte er dann noch auf seine typische, leicht spöttische Weise an: „Genieße deine letzten Tage bei uns!“
„Ja, ich versuche zu genießen, was es zu genießen gibt“, antwortete ich, und mir wurde wieder bewusst, dass ich nun, nach drei Monaten Visceralchirurgie in die Augenklinik versetzt wurde. Alle Assistenzärzte wechselten ihren Arbeitsort innerhalb des Universitätsspitals von Zeit zu Zeit. Diese sogenannte Rotationsplanung lag leider in den Händen von Huber. Aufgrund seiner Einteilung konnte jeder auf den ersten Blick die eigene Beliebtheit ablesen. Eine handverlesene Anzahl Assistenzärzte, die Huber gut mochte, blieben länger in seiner Abteilung, denn darüber waren sich die Anästhesisten einig: Die Visceralchirurgie galt neben der Notfallstation als die interessanteste Rotationsstelle. Die Augenklinik hingegen wurde als langweilig eingestuft. Offenbar floss da zu wenig Blut.
Auf meinem Weg zu Saal 5 begegnete mir Anita.
„Unsere Narkose ist vorerst verschoben worden. Der Patient ist nicht nüchtern, er soll gefrühstückt haben. Es ist dieser Ölscheich, auf den bin ich ja mal sehr gespannt.“
„Wie kann denn so etwas passieren? Jeder sollte doch wissen, dass man vor einer Operation nichts essen darf! Die Verständigung ist wohl ein bisschen schwieriger mit dem Herrn aus Saudi-Arabien. Er spricht zwar ganz leidlich Englisch. Aber es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis er wieder nüchtern ist.“
„Ob der wohl mit Turban in den OPS kommt? Lass uns erst mal einen Kaffee trinken“, forderte mich Anita auf und setzte ein markantes Lächeln auf.
Ich wollte zuerst den Kollegen in den anderen Operationssälen helfen, doch Anita steuerte zielstrebig auf die große Thermosflasche im Kaffeeräumchen zu.
„Nicht nötig, die kommen klar“, meinte sie entschlossen. Sie brachte zwei Kaffeetassen, deren Inhalt noch dampfte und verlockend duftete, und setzte sich auf den Stuhl direkt neben mir. Noch nie wurde mir bisher der Kaffee serviert. Leicht erstaunt bedankte ich mich.
Wir waren alleine im nüchternen, mit Neonlicht erhellten, eher kleinen Pausenraum. Von draußen waren die üblichen monotonen Arbeitsgeräusche zu vernehmen, die auf regen Betrieb schließen ließen.
Anita schlug die Beine übereinander, trank genussvoll einen Schluck Kaffee und lehnte sich zufrieden zurück.
„Selten