„Tatsächlich?“, mischte sich Heidi ein. „Ich würde es doch irgendwie interessant finden mit einem Sultan zu sprechen. Das ist doch so was Besonderes, Geheimnisvolles. Schade ist er nicht auf meiner Station!“
„Von mir aus können wir gerne tauschen“, meinte Sarah kopfschüttelnd.
„Gerade diese Erotik finde ich prickelnd“, hauchte Heidi gedankenverloren.
„Auf die Exotik kann ich gerne verzichten“, schmunzelte Sarah amüsiert über das Wortspiel.
Sarahs Nacht war voll wilder Träume …
Ganz allein befand sie sich in der Wüste und rannte einem Kamel nach. Oben drauf saß ihr ehemaliger Freund, an den sich eine fremde Frau klammerte. Die beiden ritten davon und hörten nicht auf Sarahs Hilferufe. Sie war verzweifelt und verspürte ein entsetzlich starkes Durstgefühl. Erschöpft ließ sie sich in den Wüstensand fallen. Sie konnte nicht mehr. Als Sarah ihren Kopf wieder anhob, entdeckte sie in weiter Ferne eine Oase, oder war das eine Fata Morgana? Sie schaute sich um. Da nahte eine ganz in Weiß gehüllte Gestalt. Auf den zweiten Blick erkannte Sarah den Scheich. Sein Gesichtsausdruck war zweideutig; er blickte finster und hob gleichzeitig die Mundwinkel zu einem Lächeln an. Mit Datteln wollte er Sarah zu sich locken. Aufgeschreckt stand Sarah wieder auf und flüchtete vor dem Scheich, der sie hämisch grinsend verfolgte. Doch so sehr Sarah auch rannte, sie kam kaum vom Fleck. Endlich gelang es ihr, den Verfolger abzuschütteln und sich in eine menschenleere Oase zu retten. Dort warf sie sich erschöpft in den Schatten der Palmen und trank einen Krug Wasser nach dem andern. Anschließend schlüpfte sie aus ihren staubigen Kleidern und kühlte sich in einem Wüstensee ab. Nackt schwamm sie eine Weile im Wasser und entspannte sich allmählich. Als sie aus dem Wasser stieg, fand sie ihre Kleider nirgends mehr. Sie suchte und suchte, doch vergeblich. Plötzlich stand der Scheich kalt lächelnd vor Sarah und weidete sich an ihrer Nacktheit, die sie nicht verbergen konnte …
Schweißgebadet erwachte sie und knipste das Licht an. Ihr geröteter Kopf fühlte sich so heiß an, als wäre sie tatsächlich aus der Sahara zurückgekehrt. Zum Glück kein Scheich in der Nähe. Alles nur Traum. Nachdem sich Sarah etwas beruhigt hatte, stand sie mit bleiernen Gliedern auf und beschloss, diese Traum nicht zu analysieren.
Wenig später, saß sie bereits beim Morgenrapport auf ihrer Station. Sarah war noch sehr verwirrt und hatte Mühe zu folgen. Die Nachtschwester berichtete über die Ereignisse der letzten acht Stunden. Jeden Patienten besprachen sie der Reihe nach. Als der Scheich an der Reihe war, zuckte Sarah zusammen. Doch über ihn gab es nichts Besonderes zu erzählen, auch er hatte, wie die anderen Patienten, in der Nacht ruhig geschlafen – und keine Verfolgungsjagden unternommen.
Endlich, dachte Sarah, ist auch dieser Rapport zu Ende und ich kann mit meiner Arbeit beginnen. Bei jedem Schichtwechsel fand eine solche Besprechung statt, die manchmal etwas lange dauerte.
Sarah musste nun die Patienten waschen, die dazu nicht in der Lage waren, als Erste die 79-jährige gebrechliche Dame mit dem Knochentumor. Sarah hatte etwas Mühe damit, die Schlafenden für diese Tätigkeit jeweils schon um sieben Uhr wecken zu müssen. Doch würde nicht früh genug damit begonnen, blieb nicht genügend Zeit für all die anderen klinischen Arbeiten des Tages. Meistens begann die Nachtwache sogar schon um sechs Uhr mit der ersten Wäsche.
Sarah knipste im Krankenzimmer nur die Nachttischlampe an, damit ihre Patientin vielleicht noch etwas weiterdösen konnte. Es wäre Sarah im Moment nur recht gewesen, wenn ihre Patientin etwas weniger als üblich spräche. In den vorangegangenen Tagen hatte Sarah fasziniert den Schilderungen gelauscht. Biografien interessierten sie enorm. Das waren keine erfundenen Geschichten wie in Romanen, dies war das echte, wahre Leben. Sie überlegte sich, wie ihre Patientin wohl im Alter von zwanzig Jahren ausgesehen haben mochte. Doch jeder ablenkende Gedanke war vergebens. Die Erinnerungen an den Traum kehrten immer wieder zurück.
‚Zum Glück muss ich den Scheich nicht waschen. Wenn ich nur möglichst schnell wieder aus diesem Zimmer hinauskomme‘, dachte Sarah, als es Zeit war, sein Frühstück zu servieren. Sie schnappte sich ein Tablett, stellte es dem Scheich hin und verschwand rasch wieder.
„Schwester Sarah kommen sie augenblicklich zu mir“, posaunte Abteilungsschwester Regula plötzlich sehr bestimmt durch den Gang.
‚Was mag denn jetzt sein?‘, dachte Sarah und begab sich ins Stationszimmer. Die Kolleginnen schauten ihr interessiert nach. Dort wartete bereits die Vorgesetzte und Fabienne stand daneben.
„Sie sollten doch mittlerweile wissen, dass Patienten vor einer Operation nüchtern bleiben müssen, oder ist das noch nicht in Ihrem Kopf angekommen?“, fragte Schwester Regula provokativ.
„Sicher weiß ich das“, antwortete Sarah standhaft.
„Ja, passen Sie denn beim Rapport nicht auf?“
„Doch, natürlich, da höre ich zu“, antwortete Sarah etwas leiser.
„Diesen Eindruck habe ich aber gar nicht. Warum servieren Sie denn Herrn al-Haqqaui ein Frühstück, wenn er heute operiert wird?“
„Ich, äh, dachte …“, Sarah wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.
„Deswegen gibt es bei uns einen Rapport. Da werden alle die wichtigen Dinge besprochen. So etwas darf einfach nicht passieren, keinesfalls! Und Sie, Schwester Fabienne, tragen ebenfalls die Verantwortung. Sie hätten das merken müssen.“
Da Sarah noch Schülerin war, traf sie nicht die volle Schuld. Sie unterstand der Obhut einer diplomierten Krankenschwester, das war an diesem Tage ausnahmsweise Fabienne. Die üblicherweise zuständige Schwester hatte ihren freien Tag. Fabienne wollte Sarah eigentlich nicht so gerne beaufsichtigen, doch an diesem Tag ging es von der Personalplanung her einfach nicht anders. Da Fabienne volles Vertrauen in ihre Freundin hatte, kontrollierte sie nicht alles bis ins Letzte.
„Nun“, argumentierte Fabienne sachlich, „das wurde erst gestern Abend festgesetzt, dass der Verbandwechsel beim Scheich in Narkose stattfindet. Normalerweise werden bei solch kleinen Eingriffen keine Narkosen benötigt. Das ist eine sehr ungewöhnliche Situation.“
„Sie sollten niemals, auch wenn etwas Außergewöhnliches verordnet wird, überfordert sein“, stichelte Schwester Regula, die Widerspruchsgeist gar nicht leiden mochte.
„Das stimmt und es tut mir wirklich leid“, gab Fabienne schließlich nach.
Regula nickte. „Hoffentlich, tut Ihnen das leid. Bei uns, und das finde ich bemerkenswert, wird die Betreuung immer individuell abgestimmt“, fügte sie in ihrer typischen belehrenden Art an.
„Jetzt muss wegen Ihres Fehlers das ganze Operationsprogramm umgestellt werden. Sind Sie sich dessen bewusst?“
Fabienne und Sarah nickten.
„Nun gut. Sie werden daraus lernen. Glücklicherweise ist niemand zu Schaden gekommen. Das ist das Wichtigste. Und jetzt wieder an die Arbeit!“
Sarah zitterte nach dieser Tirade und brachte kein Wort mehr heraus.
Fast ebenso schlimm empfand sie die Blicke gewisser Kolleginnen. Es schien, als würden sich diese Schwestern darüber freuen, dass Sarah ein Missgeschick widerfahren war. Auch all das Geplapper und die direkten und indirekten Anspielungen hinter ihrem Rücken machten Sarah zu schaffen. Es wurde sogar gemunkelt, der Scheich hätte ein Auge auf sie geworfen.
Als wäre das alles nicht genug, erschien kurze Zeit später auch der Abteilungsarzt und schimpfte seinerseits gehörig mit ihr.
Fabienne zog ihre Kollegin danach zum Bettenmachen ins nächste Zimmer. Es war leer, so konnten sich die zwei ungestört unterhalten.
„Das darfst du nicht zu persönlich nehmen“, meinte Fabienne kurz, nachdem der Arzt den Stock verlassen hatte: „Chirurgen explodieren eben mal, aber sie beruhigen sich auch rasch wieder, wie unsere Regula, deshalb passt sie auch gut in diesen Laden.“
Sarah schaute noch immer betrübt. „Na ja, trotzdem hätte mir das nicht passieren dürfen.“
„Jetzt