Sie versprach es. »Darf ich gehen?«
Ms Trenton sah nicht glücklich aus. »Natürlich.«
Jessa schob Buch und Brief zurück in den Umschlag. Sie war schon an der Tür, als die Heimleiterin sie noch einmal aufhielt: »Jessica?«
»Ja?«
»Wir alle hier helfen dir mit dieser Sache, das weißt du, oder?«
Jessa nickte. »Logisch«, sagte sie.
Sie ging mit dem Umschlag auf das Zimmer, das sie sich mit einem anderen Mädchen teilen musste. Ginny war zum Glück nicht da, aber ihr Parfüm hing in der Luft. Ginnys Bett lag so voll mit Klamotten, Schmuck und Modezeitschriften, dass der Kram sich auf den Boden ergoss und kurz davor war, in Jessas Teil des Zimmers überzuschwappen. Mit dem Fuß schob Jessa die Sachen zurück über die imaginäre Grenze, die den Raum genau in der Mitte teilte.
Ihr eigenes Bett war ungemacht. Jessa warf sich darauf. Sie nahm den Umschlag und betrachtete die gestempelte Absendeadresse darauf. Öffentliche Bibliothek Haworth.
Irgendwie passte es zu Alice, dachte sie, dass man ihr Buch in einer öffentlichen Bibliothek gefunden hatte. Zusammen waren sie oft in der Bibliothek gewesen … Ein seltsam spitzes Gefühl drang durch das Lodern in Jessas Innerstem, als eine Erinnerung an den Sommer direkt nach dem Tod ihrer Eltern in ihr aufflackerte …
»Und das hier, das aussieht wie eine Schlange? Was ist das für ein Buchstabe?«, fragte sie. Sie hockte auf ihrem Bett, hatte den Kopf tief über ein Buch mit lustigen Geschichten gebeugt, die sie sich nur mühsam zusammenbuchstabieren konnte.
Alice hob den Blick von ihrem eigenen Buch und schaute auf Jessas aufgeschlagene Seite. »Das ist ein S«, erklärte sie. »S. Wie in Seele.«
Jessa sagte es nach. »Seele. Was ist eine Seele?« Gespannt sah sie ihre Schwester an. Alice saß neben ihr, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie las natürlich kein Baby-Bilderbuch mehr wie Jessa, die das Lesen ja erst noch lernen musste, sondern irgendeinen spannenden Roman.
»Eine Seele.« Alice beugte sich vor und tippte Jessa erst gegen den Arm, dann gegen die Stirn. »Du hast einen Körper und einen Verstand. Manche Menschen glauben, dass es außerdem noch etwas gibt, das uns ausmacht. Sie nennen das die Seele. Sie glauben, dass man die braucht, damit man jemanden liebhaben kann.«
»So wie du mich?«
»So wie ich dich.«
Jessa legte den Kopf schief. »Dann musst du eine ganz starke Seele haben!«
Alice lachte. »Warum das denn?«
»Na, weil du mich doch so doll lieb hast.«
Da wurde Alice’ Gesichtsausdruck ganz weich. »Du bist ganz schön klug, weißt du das?«
Mit dieser wehmütigen Erinnerung im Herzen kehrte Jessa aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Sie wusste noch genau, wie sehr sie sich damals über Alice’ Kompliment gefreut hatte. Um den Schmerz zu unterdrücken, den die Erinnerung mit sich brachte, begann sie, das Buch sorgfältig durchzublättern. Alice hatte darin unzählige Spuren hinterlassen: Unterstreichungen, kurze Bemerkungen am Rand und kleine Zeichnungen von windzerzausten Bäumen und Häusern auf den freien Seiten zwischen den Kapiteln. Jessa suchte nach der Seite, auf der das Zitat stand, das sie und Alice sich beide auf die Unterarme hatten tätowieren lassen. Als sie sie gefunden hatte, las sie leise murmelnd: »He’s more myself than I am. Whatever our souls are made of, his and mine are the same.«
Ihr schossen Tränen in die Augen und wütend warf sie das Buch auf die Bettdecke. Alice hatte sie im Stich gelassen. Warum also heulte sie jetzt hier rum, nur weil ihr irgend so eine dumme Bibliothekarin Alice’ Buch geschickt hatte?
Sie hatte gerade das dämliche Geflenne in den Griff bekommen, als die Zimmertür aufflog und Ginny hereinkam.
»Hey! Ich wusste gar nicht, dass du da bist.« Ihre Zimmernachbarin starrte ihr ins Gesicht. »Oh. Wieder mal Weltschmerz?«
Jessa schüttelte den Kopf. »Quatsch!«
»Klar. Ist nur dein übliches Gute-Laune-Gesicht.« Ginny ließ ihren Blick über das Chaos in ihrer Zimmerhälfte schweifen. »Rutsch rüber!«, befahl sie dann und noch während Jessa überlegte, ob sie es tun sollte, quetschte Ginny sich schon neben sie.
»He!«, beschwerte Jessa sich, rückte aber ein Stück zur Seite.
Ginny deutete auf das Buch und den Briefumschlag. »Was ist das?« Bevor Jessa es verhindern konnte, hatte sie das Buch schon an sich gerissen.
»Hast du sie noch alle?«, protestierte Jessa. Sie grapschte nach dem Buch, aber vergeblich.
»Olle Kamellen!«, sagte Ginny. Sie sah so enttäuscht aus, dass es Jessa fast schon wieder ärgerte, und beinahe hätte sie verraten, dass das Buch Alice gehört hatte. Doch dann biss sie sich auf die Zunge. Seit Alice sie im Stich gelassen hatte, fuhr sie am besten damit, die Dinge mit sich allein auszumachen. Sie nahm Ginny das Buch wieder weg. »Hast du nicht irgendwas vor?«, fragte sie nicht gerade subtil.
Ginny lachte nur. »Statt hier mit dir zu hocken und Trübsal zu blasen? Und ob!« Sie sprang wieder auf die Füße und begann, ein paar Sachen zusammenzusuchen. »Ethan, Toby und ich wollen ins Kino und ich bin spät dran.«
Jessa sah zu, wie sie ihre Schreibtischschubladen durchwühlte und dabei leise vor sich hin fluchte. »Die blöden Mistdinger müssen doch hier irgendwo sein …«
»Bett«, sagte Jessa, die wusste, dass Ginny nach ihren In-Ear-Kopfhörern suchte, und die weißen Kabel unter einem ganzen Haufen Klamotten hervorlugen sah. »Südlich von Blümchenkleid und rosa Strickjacke.«
Ginny wandte sich um. »Ah! Danke!« Sie stopfte die Kopfhörer zu den anderen Dingen in ihre Tasche, dann verabschiedete sie sich. An der Tür blieb sie allerdings noch einmal stehen. »Wie hältst du es nur mit mir aus?«, fragte sie mit einem Blick auf ihr Chaos.
Jessa zuckte gleichmütig mit den Schultern.
»Ich meine: Du hast mit keinem hier länger als ein halbes Jahr zusammen in einem Zimmer gewohnt. Wir beide sind jetzt schon wie lange zusammen?«
»Acht Monate«, sagte Jessa. »Und eine Woche.«
Ginny lachte auf. »Die Tage weißt du bestimmt auch noch?«
Vier, dachte Jessa, doch sie schüttelte den Kopf. Ginny mit ihrer fürchterlichen Unordnung, ihrer lockeren Art und ihrer liebenswerten Unbekümmertheit fing an, ihr ans Herz zu wachsen. Das bedeutete, es wurde wirklich bald Zeit, dass sie Ms Trenton bat, ihr eine andere Zimmernachbarin zu geben.
»Na dann, bis später«, meinte Ginny.
Gleich darauf war sie verschwunden. Jessa nahm sich Sturmhöhe erneut vor. Sorgsam blätterte sie es noch einmal von vorn bis hinten durch auf der Suche nach Hinweisen von Alice. Ihre Schwester hatte früher manchmal zwischen den Seiten ihrer Bücher kleine Zettel versteckt. Es war eine Art Spiel zwischen ihnen gewesen. Die Zettel enthielten dann irgendwelche Zitate oder kleine Geschichten, die Jessa zum Schmunzeln brachten. Manchmal hatte Alice auch einfach nur Ich hab dich ganz doll lieb! draufgeschrieben.
Dieses Buch hier enthielt allerdings keine solche Nachricht.
Erfüllt von Enttäuschung verbrachte Jessa den Rest des Tages damit, Sturmhöhe zu lesen, auch wenn sie es unerträglich fand, wie grausam und zerstörerisch die Figuren sich benahmen. Was hatte Alice nur an dieser düsteren Geschichte gefunden? Nach hundert Seiten klappte Jessa das Buch frustriert zu und starrte gedankenverloren gegen die Wand.
Sie lief über moorige Hügel. Sie spürte den Wind auf ihren Wangen und durch ihre viel zu dünne Kleidung. Ein fast voller Mond stand am Himmel, Wolkenfetzen eilten dahin wie Schafe, die von Wölfen gejagt wurden. Bei jedem Hügel, den sie bestieg, hoffte sie,