»Ich habe Angst«, flüsterte Adrian. »Angst, dass ich es nicht mehr ertragen kann, wenn es noch mal passiert.«
Es.
Das winzige Wort ließ Erinnerungen in Christopher aufflackern. Erinnerungen an sein Blut an Adrians Händen. An Zorn. Und Schmerz. Aber auch an tiefe Reue und unendliche Verzweiflung.
Er rang sie nieder.
Adrian hob den Blick in sein Gesicht.
Christopher hielt ihm stand, auch wenn das Grauen in den Augen seines Bruders ihm das Herz gefrieren ließ. Langsam streckte er die Hand aus. »Gib sie mir!«
Adrian reagierte nicht.
»Gib sie mir!«, verlangte Christopher erneut, eindringlicher diesmal. Und nachdem die halbe Ewigkeit in atemlosem Ringen verstrichen war, griff Adrian hinten an seinen Gürtel. Als er die Hand ausstreckte, lag ein altmodischer Revolver darin, der sich seit über hundert Jahren im Familienbesitz befand.
Christopher schluckte hart. Er wartete, dass Adrian ihm die Waffe gab. Das tat sein Bruder auch, doch er ließ sie nicht los, sondern drehte Christophers Hand so, dass der Lauf genau auf seine eigene Brust zeigte.
Christophers Herz hörte auf zu schlagen. »Ist die geladen?«, flüsterte er.
»Finde es raus.«
Eine Sekunde verstrich. Eine weitere.
»Je länger ich darüber nachdenke«, flüsterte Adrian, »umso klüger kommt es mir vor, dass du mir damals diesen Schwur abgerungen hast.«
Die Welt ringsherum wurde fahl. Christopher zwang sich, nicht zu blinzeln. Wenn er jetzt nicht stark war für Adrian, das spürte er deutlich, würde sein Bruder den Schritt in den Abgrund machen und ihn mitreißen. Und was noch viel schlimmer war: Er würde ihm mit Freuden folgen.
»Dieser Schwur war eine idiotische Idee«, sagte er mit einer Stimme, die aus einem Grab zu kommen schien. »Und das habe ich dir seitdem auch schon hundertmal gesagt.«
»War es nicht.« Sanft schüttelte Adrian den Kopf. »Lass es uns tun, Christopher! Lass es uns beenden, bevor wir einem weiteren Mädchen das antun, was wir Alice angetan haben.«
»Nein!« Die Waffe war eiskalt in Christophers Hand. »Lass den Revolver los!«, befahl er.
Der Rest der Ewigkeit verging, bevor Adrian endlich gehorchte. Erleichtert kontrollierte Christopher, ob die Waffe gesichert war. Sie war es. Nachzusehen, ob sie auch geladen war, dazu fehlte ihm die Kraft. Er steckte den Revolver hinten in seinen Hosenbund. »Darum rette ich mich in Humor, Adrian«, krächzte er. »Weil einer von uns beiden den Kopf über Wasser halten muss.«
Adrian senkte den Kopf, aber ohne dabei den Blick von Christopher zu nehmen. Sein Anblick bekam etwas Reuevolles dadurch. Er wusste, wie sehr er Christopher mit seinem Verhalten schockiert hatte, und es beschämte ihn.
Christopher spürte das Gewicht der Waffe an seinem Rücken. Ihm war schlecht.
»Weißt du, wovor ich noch mehr Angst habe?«, fragte Adrian. »Davor, dass du es irgendwann nicht mehr erträgst, Christopher!«
»Dazu gibt es keinen Grund. Du weißt schließlich, wie tough ich bin.«
Mit einem Ruck wandte Adrian sich ab und starrte auf das Moor hinaus. »Komm wieder rein!«, meinte er irgendwann. »Ruh dich aus. Du siehst wirklich erschöpft aus.«
Dann ging er.
Mit brennenden Augen starrte Christopher ihm nach.
»Verdammt, Adrian!«, schrie er.
Als Jessa die Hand nach dem Umschlag ausstreckte, taumelte eine Erinnerung durch ihren Kopf. Sie sah sich auf dem Bahnsteig von King’s Cross stehen, über sich das geschwungene Glasdach, auf das feiner Londoner Regen niederfiel …
Der Zug, mit dem Alice aus Yorkshire hätte zurückkehren sollen, kam an. Menschen stiegen aus.
Aber keine Alice.
Jessa nahm das Handy heraus. Tippte:
Wo bist du???
Das kleine Häkchen neben der Nachricht blieb beharrlich grau und zeigte an, dass die Nachricht Alice nicht erreicht hatte. Genau wie die vorherige.
Und die davor.
Und die davor …
Die Erinnerung riss ab. Jessa wurde bewusst, dass sie schon eine ganze Weile regungslos mit diesem Umschlag in der Hand dasaß.
»Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte Ms Trenton.
Vor nichts auf der Welt hätte sie mehr Angst haben können.
Betont lässig betrachtete Jessa den Brief von allen Seiten. Es war ein ganz normaler Umschlag: braun, gepolstert und mit einem breiten, ebenfalls braunen Klebestreifen verschlossen. Alice’ Name und die Anschrift von Children’s Retreat darauf waren mit verschnörkelter Handschrift geschrieben, vermutlich von einer Frau. Der Absender hingegen war gestempelt: eine Bibliothek in Haworth, Yorkshire.
»Jessa?«, erkundigte sich Ms Trenton behutsam und Jessa begriff, dass schon wieder eine ganze Weile vergangen war. Sie fasste sich ein Herz, schob einen Finger unter die Lasche und riss den Umschlag auf. Ein Buch rutschte ihr entgegen. Sie erkannte es sofort. Es war eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Emily Brontës Sturmhöhe. Sie starrte auf das hellgrüne Cover, auf dem ein Gemälde mit drei Frauen abgebildet war, dann schlug sie das Buch auf. Alice Downton stand in der so vertrauten, verschnörkelten Schrift ihrer Schwester und in türkisfarbener Tinte auf der ersten Seite. Darunter die Adresse von Children’s Retreat. Die Wörter verschwammen, weil ihr Tränen in die Augen schossen. Sie drängte sie mit aller Macht zurück. Es war Alice’ Buch!
Alice!
Schickte sie ihr eine Nachricht?
Jessa starrte das Buch an, dann bemerkte sie das Blatt, das zwischen den Seiten steckte. Ihre Hände zitterten, als sie es auseinanderfaltete. Es standen nur wenige, mit einer altmodischen Schreibmaschine geschriebene Zeilen darauf:
Sehr geehrte Damen und Herren,
dieses Buch wurde in einem der Regale unserer Bibliothek gefunden und wir vermuten, dass die junge Dame namens Alice Downton, deren Name vorn im Umschlag verzeichnet ist, es gern wiederhätte. Aus diesem Grund erlauben wir uns, es an Ihre Adresse zu schicken, in der Hoffnung, dass Sie es weiterleiten können.
Mit freundlichen Grüßen,
Clarice Galloway. Bibliothekarin
Enttäuschung flutete Jessas Körper, so heftig, dass sie spürte, wie sie zu schwanken begann. Der Brief war nicht von Alice. Aus den Worten ging sogar ziemlich deutlich hervor, dass die Schreiberin Alice nicht einmal gekannt hatte.
Jessa las den Brief noch einmal, suchte darin nach Hinweisen, was mit Alice geschehen sein könnte. Aber da war nichts bis auf die Tatsache, dass Alice in Haworth gewesen war. Und das wusste Jessa längst.
Niedergeschlagen las sie den Brief ein drittes Mal, bevor sie ihn Ms Trenton gab. Die überflog die Zeilen. »Ach, Kind«, seufzte sie dann und reichte ihr den Brief zurück.
Jessa fühlte sich, als würde sie auf einer schiefen Ebene ins Rutschen kommen und die Heimleiterin, der einzige Mensch, der sie sonst immer festgehalten hatte, konnte diesmal nichts dagegen tun.
»Dr. Clarke wird mit dir darüber sprechen wollen.«
Mit mechanischen Bewegungen faltete Jessa das Blatt zusammen. »Klar.«
»Ich rufe ihn sofort an und kläre, dass du einen schnellen Termin bekommst.«
»Gut.«
Die Hand schon am Telefon, musterte Ms Trenton Jessa