Mit zitternder Hand hielt er Daumen und Zeigefinger zwei Millimeter voneinander entfernt. »Vor fünf Jahren waren wir so dicht dran. Wir hätten dich fast gerettet.«
Adrian senkte den Kopf, sodass die Kapuze sein Gesicht vollständig verbarg. »Ja«, sagte er. »Fast.« Seine Stimme war nur ein Flüstern.
Die öffentliche Bibliothek von Haworth war genau so, wie Jessa sie sich vorgestellt hatte: klein, verwinkelt, mit dem intensiven Geruch nach altem Papier, Bohnerwachs und Staub. Der Tresen, an dem die Ausleihe stattfand, war nichts weiter als ein Schreibtisch in einem der vorderen Räume des Hauses, das offenbar früher einmal ein Wohnhaus gewesen war. Der Boden bestand aus alten Eichendielen, die Fenster waren klein und wirkten in den dicken Mauern eher wie Schießscharten.
Die Bibliothekarin war eine ältliche Dame und auch sie sah genau so aus, wie Jessa sich jemanden vorstellte, der hier arbeitete. Die Frau hatte die grauen Haare zu einem Knoten geschlungen, ihre Kleidung bestand aus Rock, Bluse und Strickjacke. Eine Lesebrille hing an einer Kette um ihren Hals. Das kleine silberne Namensschild, das auf ihrem Schreibtisch stand, wies sie als Clarice Galloway aus.
»Guten Morgen«, grüßte Jessa sie. »Mein Name ist Jessa Downton.« Sie wartete einen Augenblick, ob bei dem Nachnamen etwas bei Ms Galloway klingelte. Als das nicht der Fall war, schob Jessa hinterher: »Alice Downton war … ist meine Schwester. Das Mädchen, das …«
»Oh, ja!« Ms Galloways Miene erhellte sich. »Das Mädchen, dem das Buch gehörte, das ich neulich gefunden habe. Warte, Sturmhöhe, nicht wahr?«
»Genau.«
»Wie nett, dass du hierherkommst. Warum kommt sie nicht selbst?«
»Meine Schwester ist vor fünf Jahren spurlos verschwunden.« Jessa stieß die Worte hervor wie etwas, das sie dringend loswerden musste. Auf dem Weg hierher hatte sie mehrere Versionen durchgespielt, wie sie es möglichst taktvoll erwähnen sollte, aber offenbar gab es keine schonenden Worte für so was. Jedenfalls nicht in ihrem Kopf.
Schlagartig erlosch Ms Galloways Lächeln. »Oh.« Sie schnappte nach Luft und legte eine Hand auf ihr Herz.
Weil die Dauer ihres betroffenen Schweigens sich unerträglich in die Länge zog, fuhr Jessa fort: »Ich bin hier, weil ich rausfinden möchte, was passiert ist.«
»Hat die Polizei das denn nicht?«
Hätte sie vielleicht, wenn sie vernünftig ermittelt hätte, dachte Jessa. »Nein«, antwortete sie. »Leider nicht.«
»Nun.« Ms Galloway legte den Kugelschreiber weg, mit dem sie bei Jessas Eintreten etwas auf altmodischen Buchlaufkarten notiert hatte. »Ich fürchte, ich kann dir nicht weiterhelfen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich das Buch in unserem Bestand gefunden habe. Jemand muss es ins Regal gestellt haben. Ich habe allerdings keine Ahnung, wieso.«
Jessa schaute in die Richtung, in die sie gedeutet hatte. »Können Sie mir zeigen, wo genau Sie es gefunden haben?«
»Natürlich.« Ms Galloway kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und marschierte mit kurzen, energischen Schritten den ehemaligen Hausflur entlang, dann in einen der hinteren Räume und dort in den hintersten Winkel. Eine junge Studentin, die an einem Tisch saß und einen dicken Wälzer vor sich liegen hatte, schaute kurz auf, kümmerte sich dann jedoch nicht weiter um sie.
Das Regal, in dem Alice’ Buch gestanden hatte, gehörte zur Abteilung Enzyklopädien und Sammelwerke. Dem Alter der hier stehenden Lexika und Bildbände nach zu urteilen, wurden die Bücher ungefähr alle hundert Jahre einmal benutzt. Kein Wunder. In Zeiten von Internet und Wikipedia gab es vermutlich kaum etwas Nutzloseres als alte Nachschlagewerke. Ein Wunder, dass die Bibliothek die alten Schwarten noch nicht entsorgt hatte.
»Da hat es gestanden«, erklärte Ms Galloway und deutete auf das oberste Brett eines Regals, auf dem sich eine zweibändige und offenbar ziemlich alte Sagensammlung befand. »Zwischen den beiden Sagenbänden. Es ist mir nur aufgefallen, weil es keine Signatur hat.«
Jessa zog Alice’ Buch aus der Tasche. Die Schutzumschläge der beiden Bände hatten fast dieselbe Farbe wie dessen Einband. Es war kein Wunder, dass es dort so lange unentdeckt gestanden hatte, zumal die Sagen seit Jahren niemand mehr ausgeliehen hatte, wie Ms Galloway nun erklärte.
»Und deine Schwester ist spurlos verschwunden? Hier in Haworth?« Die Bibliothekarin schauderte.
Jessa nickte. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun und nachschauen, ob Sie eine Alice Downton in Ihrem System haben?« Halb erwartete sie, einen längeren Vortrag über Datenschutz gehalten zu bekommen. Aber Ms Galloway schien selbst viel zu neugierig, um sich um solche nervigen Hindernisse zu scheren. Gut, dachte Jessa. Wenn diese Bibliothekarin das Rätsel um Alice’ Verschwinden so interessant fand, kam ihr das gerade recht.
Ms Galloway marschierte zurück zu ihrem Schreibtisch und tippte eine Weile lang auf der Tastatur ihres Computers herum, der noch altertümlicher war als die in Children’s Retreat.
»Hier«, sagte sie dann und deutete auf den Bildschirm. »Wir haben tatsächlich eine Alice Downton im System. Moment. Der letzte Eintrag für sie datiert vom 3. September 2015.«
Das war nur einen Tag, bevor Alice sich zum letzten Mal bei ihr gemeldet hatte!
Jessas Magen machte einen kleinen, flatterigen Satz. Sie hatte wirklich eine Spur von Alice entdeckt! »Was hat sie ausgeliehen?«, fragte sie ein bisschen atemlos.
»Hm. Mal sehen. Das sind alles Bücher über oder von Branwell Brontë. Das war der jüngere Bruder der drei Brontë-Schwestern.«
Der Maler, der das Bild auf Alice’ Buch gemalt hatte. Wieder einmal betrachtete Jessa das Cover. Sie fand diesen Branwell nicht besonders talentiert. Die Gesichter der drei Frauen waren flächig und nicht sehr fein ausgearbeitet, die Farben eintönig und irgendwie uninspiriert. »Könnte ich die Bücher, die Alice ausgeliehen hat, einsehen?«
»Natürlich. Du musst dafür allerdings einen eigenen Ausweis beantragen.« Datenschutz war Ms Galloway zwar egal, aber mit den Formalitäten einer Ausleihe war sie dafür offenbar umso genauer.
Jessa nahm es mit Humor und eine Viertelstunde später saß sie an dem Tisch, an dem eben noch die Studentin gesessen hatte, die aber mittlerweile gegangen war. Vor sich hatte sie drei alt aussehende Sachbücher, die sich allesamt mit diesem Branwell Brontë beschäftigten. »Dieses hier«, hatte Ms Galloway gesagt, »hat nach deiner Schwester niemand anderes mehr ausgeliehen.«
Es war eine dicke, dunkelrot eingebundene Schwarte mit dem Titel Branwell Brontë – Maler, Schriftsteller, Lehrer. Das meiste darin war ziemlich langweiliges Zeug. Jessa blätterte es dennoch durch und überflog Lebensdaten, Forschungen zu Branwells Arbeit an einem Werk namens Angria und vielem mehr. An einem Artikel blieb ihr Blick hängen.
Jemand hatte Unterstreichungen gemacht.
Und diese Unterstreichungen hatten einen dunklen Türkiston.
Wieder gab es in Jessas Magen dieses komische flatterige Gefühl. Sie schlug Sturmhöhe auf und verglich den Farbton der Unterstreichungen mit der Tinte, mit der Alice ihren Namen und ihre Adresse in das Buch geschrieben hatte.
Sie stimmten überein.
Ungefähr eine Stunde lang brauchte Jessa, um den Artikel zu lesen, für den Alice sich so sehr interessiert hatte, dass sie ihre Angewohnheit, besonders sorgsam mit Bibliotheksbüchern umzugehen, über den Haufen geworfen und ganze Passagen darin angestrichen hatte.
In dem Artikel ging es um die Frage, warum Branwell im Alter von nicht mal dreißig Jahren den Verstand verloren hatte. Das Ganze war ungeheuer kompliziert und so schwer verständlich geschrieben, dass Jessa irgendwann ein Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Für so langweiliges Zeug hatte Alice