Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kathrin Lange
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401809106
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unterbrach ihr Geplänkel, indem sie sich an Jessa wandte. »Dann brauche ich noch Ihren Namen und Ihre Anschrift.«

      Jessa vertrieb die letzten Skrupel darüber, sich das Zimmer bezahlen zu lassen. Entschlossen trat sie dichter an den Tresen heran. »Jessica Downton«, sagte sie.

      Und hörte den Typen hinter sich scharf Luft durch die Zähne ziehen.

      Er wusste nicht, was ihn mehr schockierte: die Tatsache, dass das Nasenbluten sehr viel schneller einsetzte als gewöhnlich, oder das, was er eben gehört hatte. Seine Gedanken stolperten.

      Die Kleine … sie war …

       Sie ist Alice’ Schwester?

      Es fühlte sich an, als hätte sich der Boden unter seinen Füßen in hauchdünnes Glas verwandelt. Während er mit der einen Hand versuchte, die Blutung zu stoppen, suchte er mit der anderen Halt an dem Tresen der Rezeption.

      Jessas Augen waren weit aufgerissen. »Scheiße!«, murmelte sie und für einen kurzen, irrationalen Moment fürchtete er, sie wusste Bescheid darüber, was mit Alice geschehen war. Dann jedoch ging ihm auf, dass sie wegen des Blutes erschrocken war.

      Mist! Das hätte sie eigentlich nicht sehen sollen.

      Er riss sich zusammen. »Kein Grund, hysterisch zu werden«, sagte er so ruhig, wie er konnte, nahm ein Taschentuch heraus, wischte sich damit Nase und Oberlippe und dann auch noch die blutigen Finger sauber. Während er das tat, sah er Pamela an. »Sind wir fertig?«

      Die Rezeptionistin hatte ein leises »Oh!« ausgestoßen, als sie das Blut bemerkt hatte. »Ja«, bestätigte sie jetzt und deutete auf das Taschentuch in seinen Händen. »Kann ich …«

      »Nicht nötig. Es ist nichts.« Schon wieder musste er sich das Nasenloch zuhalten, weil neues Blut nachkam. Auch die üblichen Schmerzen kündigten sich jetzt in seinem Hinterkopf an. Es wurde Zeit, dass er von hier verschwand. Er ließ sich von Pamela seine Kreditkarte wiedergeben, dankte ihr und nickte Jessa knapp zu. »Denk dran: Bleib weg von ….«

      »Schon klar!«, grummelte sie und Christopher wartete auf ihr übliches Augenrollen. Aber es kam nicht und er spürte, dass sie verunsichert war. Logisch. Mittlerweile musste er auf sie einen ziemlich melodramatischen Eindruck machen: blutend und vermutlich auch aschfahl, wie er es wegen der Kopfschmerzen immer wurde. Er tat so, als sei alles völlig normal.

      »Versprich es mir!«, verlangte er.

      »Ich verspreche es!« Nun verdrehte sie doch die Augen.

      Na also! Fast hätte er gelächelt.

      Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und sah zu, dass er von hier verschwand. Wenige Momente später saß er wieder auf der Maschine und drehte das Gas bis zum Anschlag auf. Das kraftvolle Wummern der Enduro schien sich in Worte zu verwandeln: Sie ist Jessa. Sie ist Alice’ Schwester. Alice’ Schwester. Schwester. Ihre Schwester

      Als er Haworth hinter sich gelassen hatte, warf er den Kopf in den Nacken und stieß einen lang gezogenen Schrei aus, der sich irgendwo über den Bergen im Nebel verlor.

      Adrian erwartete ihn beim Stall. Besorgt schaute er Christopher entgegen, und natürlich sah er die Spuren des Blutes in seinem Gesicht sofort.

      Christopher wollte abwiegeln, wollte ihm sagen, dass alles gut war, aber es wäre eine Lüge gewesen. Zwar war das Nasenbluten in dem Moment versiegt, als er die Grenze des Anwesens überquert hatte, aber die Kopfschmerzen wirkten noch nach. Er sah doppelt, als er die Enduro neben seinem Bruder anhielt, und als er das Bein über den Bock schwang, wurde ihm kurz so schwindelig, dass er taumelte.

      »Hey!« Adrian sprang zu ihm und stützte ihn.

      Christopher wehrte ab. Er brauchte keine Hilfe. Doch dann sah er ein, dass seine Knie so wackelig waren, dass er froh über Adrians Halt sein konnte, denn es bestand durchaus die Gefahr, dass er vor seinem Bruder in die Knie ging, und das wollte er auf keinen Fall. Adrian machte sich auch so schon genug Sorgen um ihn.

      »Geht gleich wieder«, murmelte er und stützte sich schwer auf der Schulter seines Bruders ab, während der ihm half, nach drinnen ins Herrenhaus zu wanken.

      »Schon klar.« Adrian stöhnte auf. »Alter! Füttert Nell dich etwa heimlich mit Kuchen? Was wiegst du denn?«

      Das ist mein versteinertes Herz, wollte Christopher scherzen, aber er verbiss sich den blöden Spruch. Auf keinen Fall würde er jetzt auch noch melodramatisch werden. »Muskeln sind eben schwerer als Fett«, entschied er sich für einen unbeschwerteren Scherz.

      »Vielleicht solltest du lieber ein bisschen weniger Gewichte stemmen und stattdessen ein paar Schachpartien üben.«

      Christopher lachte auf. »Glaub bloß nicht, dass ich dich beim nächsten Mal so einfach davonkommen lasse!« Es war eine leere Drohung. Seit Jahrzehnten hatte er nicht mehr gegen Adrian im Schach gewonnen.

      Das Schwindelgefühl ließ vollständig nach, als sie die Bibliothek erreichten. »Geht wieder«, sagte Christopher und machte sich aus Adrians Griff los, bevor der ihn auch noch wie einen alten Tattergreis auf eines der Sofas bugsieren konnte.

      Adrian musterte ihn und nickte, als er mit dem, was er sah, zufrieden war.

      »Was ist mit dir?«, fragte Christopher. Sein Herz zog sich zusammen in Erwartung einer nur schwer zu ertragenden Antwort, aber zu seiner Erleichterung schüttelte Adrian beruhigend den Kopf. »Es ist alles in Ordnung.«

      Christopher zwang sich durchzuatmen. Das Feuer im Kamin verbreitete eine wohlige, nach Tannenharz duftende Wärme. »Bist du sicher?«

      Adrian nickte. Er legte den Kopf schief, wie er es immer tat, wenn er wusste, was in Christopher vorging. »Du hattest Angst, dass ich mir etwas antue, während du weg warst.«

      Christopher gestand sich ein, dass er auf dem Weg hierher tatsächlich diesen kurzen, aber beängstigenden Gedanken gehabt hatte. Mit den Fingerspitzen massierte er sich Stirn und Schläfen.

      »Ich weiß, dass es nichts bringen würde, mich umzubringen«, sagte Adrian. »Allein, meine ich.«

      Christopher hielt Adrians forschendem Blick stand und wusste, sie dachten exakt dasselbe.

      »Du hast sie rechtzeitig von hier weggebracht«, sagte Adrian. »Das ist gut.«

      »Hm.«

      Unbehagliche Stille füllte den Raum. Christopher wusste, er musste seinem Bruder von Jessa erzählen. Aber wie sollte er es nur über die Lippen bringen?

      Adrian spürte, dass etwas folgen würde. Seine Augen weiteten sich ein wenig. »Was?«, fragte er mit einem Anflug von Anspannung in der Stimme.

      Christopher presste den Handballen gegen die Stirn.

      »Was hast du, Christopher?«, hakte Adrian nach.

      Es gab keinen Weg, es seinem Bruder schonend beizubringen, das wusste er. »Die Kleine …« Sein Mund war plötzlich ganz trocken und er musste erst schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Sie ist Alice’ Schwester.«

      Die Stille wurde zu Sirup. Christopher fragte sich, ob Adrian – genau wie er selbst – in diesem Augenblick an die Revolver dachte.

      »Du hast sie von hier weggeschafft«, murmelte Adrian endlich.

      »Ja. Ja, habe ich.«

      »Dann ist doch alles gut.«

      Christopher kehrte in sein Zimmer zurück, weil er sich nach den überstandenen Schocks dringend ein wenig ausruhen wollte. Daran war allerdings kaum zu denken, denn als er die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, stand ein sechzehnjähriges Mädchen vor ihm. Ihre graugrünen Augen blitzten unter ihren wie immer wirren roten Locken hervor.

      Er blieb im Türrahmen stehen. »Nell«, sagte er und bemerkte, dass sie viel zu schnell atmete. Bevor er sie fragen konnte, was los war, trat sie einen Schritt zur Seite, sodass sein Blick auf sein Bett fallen konnte. Die Kiste mit den Revolvern stand nicht mehr darunter, sondern