Die Gaststätte, in der Arnold sie erwartete, befand sich auf einer Erhebung mit Ausblick auf den silvanischen Fluss und gehörte zu den feinsten Lokalen der Stadt. Alle Stühle und Tische waren aus hochwertigem Holz, von Handwerksmeistern in gewissenhafter Handarbeit gefertigt und mit edlen Schnitzereien verziert. Die Türgriffe waren mit echtem Gold überzogen, Gabeln und Messer glänzten im Schein prachtvoller Kronleuchter, die angenehm warmes Licht spendeten. An den Wänden waren unzählige Mosaike, auf denen man Tiere erkennen konnte. Auf den Tischen standen Kerzenleuchter, die auf Wunsch vom Personal angezündet wurden. Neben den Tischen gab es eine riesige Tanzfläche.
Vor dem Eingang kontrollierten Türsteher die ankommenden Gäste und ihre Garderobe, denn nur Besucher im Anzug durften die Gaststätte betreten, alle anderen wurden weggeschickt. Es herrschten strenge Regeln. So durfte auch das Jackett vor Mitternacht nicht ausgezogen werden. Tat dies jemand dennoch vor der erlaubten Zeit, wurde er nicht mehr als einmal höflich gebeten, es wieder anzuziehen und andernfalls des Raumes verwiesen.
Bevor die Jäger etwas aßen, tranken sie Sekt und ließen sich ihre Belohnung auszahlen. Arnold gab ihnen die vereinbarte Summe. Dann bestellten die Jäger Hähnchenkeule. Alle aßen mit Messer und Gabel, nur einer verschlang sie mit bloßen Händen. Wieder einmal war es Malus. Er hatte keine Lust auf diese gestelzten und förmlichen feinen Sachen, schließlich war er ein Naturbursche und wollte das zarte Fleisch mit seinen Händen fühlen können. Die Jägerkollegen fanden sein Benehmen unerhört und beschwerten sich beim Personal: »Der Gast namens Malus isst mit den bloßen Händen.« Daraufhin ging das Personal auf jenen zu und forderte ihm auf: »Mein Herr, verlassen Sie unverzüglich die Gaststätte!« Und so geschah es.
Nach dem Essen wurde getanzt. Musiker aus aller Welt waren gekommen und sangen über die Sehnsucht nach bildschönen Naturlandschaften.
Kurz bevor Arnold die Gaststätte verlassen wollte, wurden er von den Jägern angesprochen. Sie erzählten ihm: »Es konnten nicht alle Hasenwesen erlegt werden. Einer ist uns entkommen.«
Arnold gefiel diese Nachricht überhaupt nicht. Er hatte sich zu früh gefreut und forderte die Jäger auf: »Findet den Überlebenden und tötet ihn. Schließlich habe ich für die Erlegung aller bezahlt.« Die Jäger sahen sich verpflichtet, den letzten Hasen aufzuspüren und ihn zu erlegen, denn sie wollten unter allen Umständen ihre Seriosität beibehalten: »Ja, wir werden ihn finden!«
*
Derweilen träumte der in einen Baum verwandelte Alfred des Nachts von drei Abiturienten. Sie standen vor ihm und betrachteten ihn. Es gab etwas an dem Baum, das sie bezauberte. Da sahen sie plötzlich am Horizont einen Regenbogen. Die Farbenvielfalt spiegelte die bunte Schönheit der Welt wider. Wie aus dem Nichts trat eine engelhafte Gestalt daraus hervor, die den Abiturienten vom Menschendasein des Baumes erzählte. Als die engelhafte Gestalt sah, dass die Schüler interessiert aufhorchten, fragte sie: »Wollt ihr, dass der Baum wieder in einen Menschen zurückverwandelt wird?« Alle drei antworteten einstimmig mit Ja, woraufhin der Baum seine ursprüngliche Gestalt annahm und als Alfred vor ihnen stand. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, das Verlorene wiederzuerlangen. Er war nicht mehr blind und konnte die Welt wieder mit den Augen sehen.
Tage vergingen, und Alfred erinnerte sich an diesen Traum, als habe er ihn gerade erst geträumt. Er wollte nicht aus seinen Gedanken weichen. Oft fragte er sich, ob es diese Abiturienten tatsächlich gab, von denen er geträumt hatte. Denn obgleich er fest an einem Platz verwurzelt stand und sich nicht bewegen konnte, war ihm eine Sehnsucht geblieben: sich mit den Hasenwesen zu vereinen, um ihren Widerstand gegen jene Schule fortzusetzen. Aber er wusste nicht einmal, ob seine Freunde noch lebten, hatte er doch die bewaffneten Jäger bemerkt, die auf der Jagd nach den Hasen an ihm vorbeigeschlichen waren. Alfred hoffte inständig, dass nicht alle erschossen worden waren. Ohne sie war er machtlos.
*
Lange hatte der junge Hase Alfred nicht mehr gesehen. War er wirklich im Kampf gegen die Schule gefallen? Ziellos lief er im Wald umher. Vor einem Baum hielt er plötzlich an und betrachtete ihn genauer. Irgendetwas an diesem Baum war anders, das hatte der junge Hase sogleich gespürt und ohne es zu ahnen den verwandelten Alfred gefunden.
Alfred wusste sofort, wer der Hase war, und sprach ihn an: »Schön dich zu sehen, mein Lieber.«
Das junge Hasenwesen wiederum erkannte Alfred an der Stimme und war glücklich: Er lebte! »Warum bist du ein Baum geworden?«, fragte der junge Hase überrascht.
Alfred erzählte nun von dem ihm zugefügten Leid: »Ein unheimliches Wesen hat mich in einen Baum verwandelt.« Anfangs konnte der Hase die Geschichte nur schwer glauben, weil sie so märchenhaft klang. Aber schließlich gab es keinen anderen sprechenden Baum im Wald, also musste es wohl stimmen. Noch etwas anderes beschäftigte den jungen Hasen sehr: Nachdem er sich ans Ufer des rauschenden Flusses hatte retten können, konnte er nicht nur seine Eltern nicht mehr finden, sondern war auch sonst keinem Hasenwesen mehr begegnet. Ob er der einzige Überlebende seiner Art war? Überall war er auf seinem Weg den Jägern ausgewichen, die durch die Wälder streiften, aber vielleicht gab es irgendwo noch andere wie ihn, welche die Jäger auch nicht aufgespürt hatten?
Der junge Hase hielt an seiner Hoffnung fest und nahm sich laut vor: »Ich werde nach weiteren Überlebenden suchen und sie zu einer neuen Widerstandsgruppe vereinen.«
Alfred bestärkte ihn darin: »Solange es noch Entkommene gibt, können wir gewinnen. Kämpfe weiter!« Sie wollten ihre Welt retten.
Kapitel 1
Die drei Jungen
Romeo, Luka und Enzo kannten sich seit der Grundschulzeit. Enzo und Luka trafen sich zuerst. Romeo stieß später zu ihnen, als sie eines Tages beobachteten, wie er auf dem Pausenhof von den Älteren wegen seiner Ohren gemobbt wurde. Sie standen weit vom Kopf ab und wirkten an den Rändern wie von einer Ratte angefressen. Luka und Enzo hatten Mitleid mit ihm gehabt, ihn gegen die Großen verteidigt und sich mit ihm angefreundet. Romeo war mit seinen merkwürdigen Ohren geboren worden. Niemand wusste, warum sie so deformiert waren, aber für die Freundschaft mit Luka und Enzo spielte dies keine Rolle.
Sie waren gleichaltrig, nur unterschiedlich groß. Enzo war der Größte von ihnen, Romeo der Kleinste, während Luka die Mitte hielt. Auch sonst waren sie sehr verschieden. Das begann bei ihrer Kleidung und den Lieblingsfarben. Romeo trug oft einen orangen Pullover, dazu eine blaue Jeans. Enzo mochte besonders seinen grauen Pullover, während Lukas Lieblingspullover grün war und er Jeans hasste. Er bevorzugte bequeme schwarze Jogginghosen. Auch ihre Haarfarbe unterschied sie: Lukas Haare waren schwarz, die von Romeo braun und Enzo hatte blondes Haar. Bei aller Verschiedenheit aber verband sie eines: die Liebe zum Kampfsport.
Bereits mit sieben Jahren hatten die Eltern sie zu Kampfsportvereinen gebracht, weil jene wollten, dass ihre Kinder dort lernten, ihre höchste Entwicklungsstufe zu erreichen, aber gleichzeitig verstanden, wie wichtig die Achtung der Harmonie war. Dazu gehörte, die Vielfalt des Lebendigen zu verstehen, die mit den mannigfaltigen Kampfsportstilen verglichen werden kann. Sehr früh lernten die Jungen, dass jede Kampfsportart ihre eigene Daseinsberechtigung hatte und keine der anderen überlegen war, genau wie alle Lebewesen ihren Beitrag im Weltgeschehen leisteten. Auch wenn sie Kampfsportler unterschiedlicher Stile waren, so tauschten sie sich aus und waren offen für die Künste der andere. Enzo als begeisterter Jiu-Jitsu- Kämpfer schaute sich gerne manchmal auch das Training von Luka, der Karate mochte, und von Romeo, welcher Kung Fu liebte, an. Umgekehrt interessierten sich auch Romeo und Luka dafür, was es in Enzos Kampfsportart so zu erkunden gab.
Während der Unterrichtsstunden lernten die Jungen, dass ihr Verhältnis mit dem jeweiligen Großmeister symbiotischer Natur wäre. Ihr Großmeister war ihnen keinesfalls überlegen. Jener konnte nur besser werden in dem, was er machte, wenn er anderen sein Wissen weitergab. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit, seine Techniken besser zu durchdringen.