Alfred war stolz auf seine Narben. Jede einzelne galt ihm als Zeichen für seinen Kampfgeist und seine Überzeugungen, die ihn zutiefst erfüllten. Nachdem er sich im Krankenhaus erholt hatte und entlassen worden war, wurde er ein radikaler Umweltaktivist. Zunächst trat er einer Öko-Partei bei und arbeitete sich schnell zu einem der führenden Mitglieder hoch. Gleichzeitig organisierte er verdeckt mit einer kleinen radikalen Gruppe eine Umweltkontrolle, denn es gab viele Menschen in der Stadt, die ihren Müll einfach auf den Boden oder in die falsche Mülltonne warfen. Dieser Barbarei wollte Alfred ein Ende machen und schickte mit Baseballschlägern bewaffnete Männer auf Patrouille. Sobald sie jemanden entdeckten, der seinen Müll achtlos fortwarf, forderten sie ihn auf, ihn korrekt zu entsorgen, ansonsten setzte es Prügel. Sie errichteten ein regelrechtes Terrorregime des Umweltschutzes, was nicht bei allen Gleichgesinnten gerne gesehen wurde.
Einmal trafen Alfred und seine Aktivisten auch wieder auf Benjamin und dessen Kameraden. Denen war langweilig und sie wollten herausfinden, wie viele Mülltonnen sie wohl an einem Tag umkippen konnten, ohne dass jemand sie daran hinderte. Die Passanten, die es sahen, trauten sich nicht, einzuschreiten. Dann kamen Alfred und seine Leute vorbei. Das war die Gelegenheit! Diesmal sollten die Kerle nicht so leicht davonkommen, und zur Abwechslung landeten jetzt Benjamin und seine Freunde im Krankenhaus.
Das hatte für Alfred allerdings dramatische Konsequenzen. Aufgrund seines Radikalismus wurde er aus der Partei geworfen und fand keine neue, die bereit war, ihn aufzunehmen, denn die Stadt Silva hatte ihm jede politische Beteiligung untersagt. Nachdem er nicht mehr aktiv werden und für seine Überzeugungen kämpfen durfte, beschloss er, die zivilisierte Welt zu verlassen. Das Stadtleben war nichts mehr für ihn. Seine Freunde verstanden ihn nicht, hielten ihn gar für verrückt: »Du hast den Verstand verloren! Werde wieder vernünftig!«
Alfred war enttäuscht: »Wie könnt ihr nur so etwas Gemeines sagen?« Wo blieb ihre Kameradschaft? Schon bei seinen umweltpolitischen Aktionen waren sie ihm nicht zur Seite gestanden, auch seine Familie nicht, sondern fremde Parteimitglieder hatten ihn unterstützt. Alle, die ihn im Stich gelassen hatten, sollten keinen Platz mehr in seinem Leben haben, und so ging er in den Wald.
Er litt nicht unter der Einsamkeit, im Gegenteil genoss er es, keinen Stress mehr zu haben. Keine verhasste Bürokratie, die immer alles zu Papier bringen musste, ohne dass es jemandem half. Viele Bäumen hätten gerettet werden können, wenn die Bürokraten das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden könnten und nicht für jede Kleinigkeit eine Bescheinigung verlangen würden. Alfred dachte oft an die Bäume, die wegen der Bürokratie der Menschen gefällt werden mussten. Er gehörte zu den wenigen, welche die Natur achteten und respektierten.
Niemand sonst lebte in dem Waldgebiet, in das er gegangen war, jedenfalls hatte er noch keinen gesehen. Nichts liebte er mehr als die Wälder. Ihre Schönheit war für ihn überwältigend. Er liebte das Vogelzwitschern, den Chor der verschiedenen Vogelstimmen und das Plätschern und Rauschen der Bäche und Flüsse. Die Geräusche der Natur entspannten ihn. Er hatte sich eine Hütte mit einem flachen Dach gebaut, in deren Inneres eine Holztreppe führte. Die Hütte war so winzig klein, dass gerade mal eine zweite Person noch hineinpasste. Er hatte sie so platzsparend wie möglich gebaut, um die Natur zu schonen, denn auch wenn er es hasste, musste er dafür ein paar im Weg stehende Bäume fällen. Es hatte ihn einiges an Überwindung gekostet, auch nur einen seiner geliebten Bäume abzusägen. Als seine Waldhütte fertig war, hatte er sich geschworen, niemals wieder auch nur einen einzigen Baum zu fällen. Er entschuldigte sich bei der Natur: »Ich bitte um Vergebung. Dies ist meine erste und letzte Hütte, die ich je in meinen Leben gebaut habe.« Er lebte von dem, was die Natur ihm gab, und sobald er ein Sättigungsgefühl verspürte, hörte er mit dem Essen auf. Auch sonst achtete und pflegte er seinen Körper. Das Leben im Wald hatte seine Gesundheit verbessert, wozu die bewusste Ernährung und die frische Waldluft beitrugen.
Eines Tages, während Alfred auf der Jagd war und hinter Bäumen nach Beutetieren Ausschau hielt, sah er zufällig Arnold mit weiteren Geschäftsmännern. Sie trugen schwarze Anzüge, graue Hemden und weiße Krawatten. Neben ihnen standen vier glatzköpfige Leibwächter mit geladenen Pistolen. Sie sahen auf den ersten Blick alle gleich aus, wie Vierlinge. Ihre Nasen waren verformt, weil sie in ihrem Leben schon an unzähligen Schlägereien beteiligt gewesen waren. Keiner der Männer bemerkte ihn. Arnold und die anderen unterhielten sich miteinander und sprachen klar und deutlich, jedoch sehr leise. Im Schutz der Büsche schlich Alfred sich vorsichtig heran, sodass er dem Gespräch unauffällig lauschen konnte. Konzentriert beobachtete er jede einzelne Bewegung der Fremden. Sie sprachen über den Bau einer Privatschule in diesem Waldgebiet. Alfred wollte nicht glauben, was er da hörte.
Arnold war gekommen, um sich einen Überblick über das zu rodende Waldgebiet zu verschaffen. Es wurde auch der Tag festgelegt, an dem die Holzfäller kommen sollten, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Alfred musste sich beherrschen. Er hätte sie gleich auf der Stelle alle umbringen wollen, jedoch konnte er das nicht riskieren. Die Leibwächter waren mit Pistolen bewaffnet, während Alfred nur eine Steinschleuder hatte. Selbst wenn er einen von ihnen traf, würden die anderen ihn sofort erschießen. Er durfte sein Leben nicht aufs Spiel setzen.
Die Geschäftsleute gingen wieder, und Alfred kehrte zu seiner Hütte zurück. Was er soeben erfahren hatte, verdarb ihm gehörig den Tag. Anstatt weiter zu jagen, dachte er über die Neuigkeiten nach und kam zu dem Ergebnis, dass die Unternehmer genügend Platz in der Großstadt hatten, um ihre Schule dort zu bauen. Ärgerlicherweise hatte die Stadtbehörde diesen Bau schon genehmigt. Alfred war außer sich. Wie konnte das sein? Es war eine schreiende Ungerechtigkeit! Hatten die Menschen den Verstand verloren?
Für ihn waren Städte ein grundsätzliches Übel, nirgendwo lebten die Menschen naturfremder als dort. Seit den ersten städtischen Ansiedelungen hatte es unzählige Rodungen gegeben. Aber auch mit Ackerbau und Landwirtschaft war Alfred nicht gut Freund, weil sie den Pflanzenreichtum bedrohten. Warum lebten die Menschen nicht einfach im Einklang mit der Natur? Keine andere Art handelte so gegen die natürliche Ordnung wie sie.
Alfred verstand nicht, warum vielen Wirtschaft, Luxus und monetärer Erfolg wichtiger als die Umwelt waren. Wenn man seine Welt zerstörte, konnte man mit Wohlstand und Reichtum doch gar nichts anfangen! Den Bau dieser neuen Bildungseinrichtung wollte er jedenfalls nicht dulden. Auf keinen Fall durfte hier eine Schule entstehen! Er nahm sich vor, den Bau zu sabotieren und nötigenfalls einen Widerstand zu organisieren. Niemand hatte das Recht, die Natur zu zerstören, fand er: Weil sie uns erschaffen hat und wir ohne sie nicht leben können. Überheblichkeit brachte dem Menschen Selbstzerstörung, davon war Alfred überzeugt.
Er kannte die Hasenwesen, die ein harmonisches Verhältnis mit ihrer Umwelt pflegten. Er war der einzige Mensch,