Bei vielen vorangegangenen wirtschaftlichen und technischen Revolutionen gab es leider keine Alternative. Man musste sich mit Situationen abfinden, die Ergebnisse nach dem Starsystem hervorbrachten. Das Kapital verhielt sich nun einmal wie eine Flüssigkeit und konnte unter diesen Umständen nicht dazu gebracht werden, sich in einer Mitte anzuhäufen. Um die Auswirkungen des Starsystems zu mildern, entstanden im Lauf der Zeit verschiedene »Deiche«, die diese ungünstige Strömungsmechanik ausgleichen und die Mittelschicht schützen sollten.
Deiche sind breite, nicht allzu hohe Begrenzungen, die den natürlichen Fluss eines Gewässers zurückhalten sollen, um etwas Wertvolles zu schützen. Eine Anhöhe mit abgestuften Deichen, die sich inmitten der Ökonomie erhebt, kann man sich wie die Reisterrassen in Südostasien vorstellen. So ein Berg, der aus dem Meer der Ökonomie herausragt, schafft eine wohlhabende Insel im Sturm des Kapitals.
Eine Ad-hoc-Erhebung aus Deichen, ähnlich wie beim Terrassenanbau, hebt die Mittelschicht aus dem Fluss des Kapitals, das sonst Extremen zuneigen und etwa einen langen Ausläufer der Armut schaffen würde (der Ozean im Bild links) sowie eine Spitze des Reichtums für die Elite (der Wasserfall/Geysir in der oberen rechten Ecke). Eine Demokratie ist darauf angewiesen, dass der Berg den Geysir übertrifft. (Zeichnung des Autors)
Deiche für die Mittelschicht haben viele Formen. Die meisten Industrieländer haben sich für Deiche auf staatlicher Grundlage entschieden, allerdings ist die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in den meisten Ländern durch die staatlichen Sparmaßnahmen bedroht, die zur Bewältigung der 2008 einsetzenden Finanzkrise ergriffen wurden. Einige Deiche waren auch nur pseudo-staatlich. So wurde etwa im 20. Jahrhundert die Mittelschicht in den USA durch steuerliche Vergünstigungen ermuntert, selbst in Eigenheime und damals konservative Anlagen wie eine individuelle Altersvorsorge zu investieren.
Auch bestimmte Berufsgruppen haben ihre Deiche: akademische Festanstellungen, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, Taxi-Lizenzen, Genehmigungen für Kosmetikstudios, Urheberrechte, Patente und so weiter. Zur Absicherung der Mittelschicht entstanden auch eigene Branchen, etwa die Versicherer.
Das alles war natürlich nicht perfekt. Für sich genommen genügte keine dieser Maßnahmen. Ein erfolgreiches Leben in der Mittelschicht stützte sich normalerweise auf mehr als eine Absicherung. Doch ohne diese Ausnahmen im reißenden Strom des Kapitals hätte der Kapitalismus nicht gedeihen können.
Das unsinnige Ideal eines vollkommenen Marktes
Aufgrund der historischen Situation, in der dieses Buch verfasst wird, muss ich auf etwas Offensichtliches hinweisen. Zukünftigen Lesern in vernünftigeren Zeiten wird dies hoffentlich als unnötige Abschweifung erscheinen. (Ja, ich bin ein unverbesserlicher Optimist!)
Derzeit gibt es eine ziemlich verrückte und deprimierende globale Debatte, die Regierungen gegen Märkte ausspielt oder Politik gegen Geld. Sollten in Europa finanzielle Überlegungen der deutschen Kreditgeber die politischen Erwägungen der griechischen Kreditnehmer ausstechen? In den USA wird auf breiter Front von populistischen Ideologen, oder was man dafür hält, verkündet: »Die Regierung ist das Problem, die Märkte sind die Lösung.«
Zu alldem sage ich: Ich bin Informatiker, für mich ergibt keine der beiden Positionen einen Sinn. Technologien sind nie vollkommen. Sie müssen unaufhörlich verbessert werden.
Beispielsweise könnte man den Wunsch haben, einen Tablet-Computer zu entwickeln, der nach außen hin völlig makellos und glatt ist, keine Schalter und Tasten hat, sondern nur einen Touchscreen. Wäre er nicht vollkommener und würde dem Ideal viel besser entsprechen? Aber man schafft es nie so ganz. Ein paar zusätzliche Schalter, etwa um das Gerät überhaupt anzuschalten, sind unverzichtbar. Mit absoluten Ansprüchen ist das Scheitern für einen Technologen quasi vorprogrammiert.
Märkte sind eine Informationstechnologie. Eine Technologie ist nutzlos, wenn man sie nicht verbessern und verändern kann. Wenn die Markttechnologie nicht völlig automatisiert werden kann, sondern noch immer ein paar »Knöpfe« benötigt, hat es keinen Sinn, so zu tun, als würde es auch anders gehen. Man jagt nicht schlechtfunktionierenden Idealen hinterher, sondern man behebt Fehler.
Und es gibt immer Fehler! Wir haben gerade erlebt, wie Finanzinstitute in der vernetzten Finanzwelt mit Steuergeldern gerettet werden mussten, und anscheinend genügt nicht einmal die strengste staatliche Sparpolitik, um dafür aufzukommen. Also muss die Technologie verändert werden. Der Wille, eine Technologie zu verbessern, zeigt, dass man sich auf sie einlässt, nicht, dass man sie ablehnt.
Wenden wir uns also wieder unserem vorliegenden Projekt zu, der Frage, ob die Netzwerktechnologie den Kapitalismus verbessern kann, anstatt ihn zu verschlechtern. Bitte tun Sie nicht so, als ob es eine Art »reine« Form des Kapitalismus gäbe, der wir treu bleiben sollten. Sie existiert nicht.
Einkommen und Vermögen
In den von der Immobilienblase geprägten ersten Jahren des neuen Jahrtausends war ein Buch mit dem Titel Rich Dad, Poor Dad: Was die Reichen ihren Kindern über Geld beibringen sehr populär. Darin erklärte der Autor, dass sein Vater, ein Akademiker, zwar ein ordentliches Gehalt gehabt hätte, aber nie richtig voranzukommen schien. Er blieb immer der »arme Dad«. Sein Mentor hingegen, der »reiche Dad«, legte sein Geld an, anstatt nur im Rahmen seines Gehalts zu denken. In der Folge jagten Millionen Leser diesem magischen Ding nach, das die Reichen hatten und sie nicht – einem Vermögen anstelle eines bloßen Einkommens. (Leider stellte sich heraus, dass der Kauf eines Hauses, eine der Hauptstrategien dieser Bewegung, eher eine Aufforderung dazu war, betrogen zu werden.)
Streng genommen sind nur sehr wenige Reiche auch Großverdiener. Es gibt ein paar im Sport und in der Unterhaltungsbranche, aber sie sind wirtschaftlich betrachtet die Ausnahme. Reiche Leute verdienen ihr Geld normalerweise durch Kapital. Sie haben in Immobilien, Aktien und dergleichen investiert und beziehen daraus ihr Geld. Die Reichen haben die Psychologie der Finanzierung verinnerlicht, während wir Normalverdiener Geld immer noch als System zur Abrechnung und Buchhaltung betrachten. Oder anders ausgedrückt: Die Reichen kommen bei den Kapitalströmen in den Genuss großer Deiche.
Auf den oberen Erhebungen des Reichtums entstehen die Deiche fast von allein. Für die meisten erfolgreichen Leute ist Vermögen wie das Meer, in das sich die Flüsse nach einem großen Sturm des kommerziellen Wandels ergießen.16 Es ist einfacher, reich zu bleiben, als reich zu werden.
Ein idealer Mechanismus wäre ausreichend beweglich, um Kreativität zu belohnen und nicht zu einer dem Untergang geweihten Machtbasis für planwirtschaftliche Kontrollinstanzen zu werden. Dennoch sollte das Design so robust sein, dass es den unvermeidlichen heftigen Stürmen des Kapitalflusses widersteht, die von den in diesem Jahrhundert entwickelten neuen Technologien entfacht werden. Das Design muss lohnend und normal sein und darf nicht auf Alles-oder-nichts-Ereignisse angewiesen sein. Man könnte es sich also etwa so wie die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft vorstellen. Eine robuste Lösung wäre »skalierbar«, das heißt, sie würde, je mehr Menschen sie übernehmen, nicht schwächer, sondern immer stärker werden.
Weiter unten werde ich einen Vorschlag für ein derartiges Design präsentieren.
Der Geschmack der Politik
Die Mittelschicht, die bisher durch »Deiche« abgesichert wurde, wird mittlerweile von zwei Seiten bedroht. Von oben schauen die Reichen, die vom Auftrieb des Kapitalflusses profitierten, manchmal nach unten und sehen eine künstliche Blockade der Kapitalströme. So hindert möglicherweise eine Gewerkschaft einen Arbeitgeber daran, sich Mitarbeiter zu suchen, die für weniger Geld arbeiten, eine geringere soziale Absicherung oder weniger Sicherheit am Arbeitsplatz verlangen. Was einem Arbeitnehmer als Sicherheit erscheint, kann einem Arbeitgeber oder Investor wie ein Hindernis für die korrigierenden Kräfte des Marktes vorkommen.
Von unten betrachtet lehnen diejenigen, die vielleicht nicht in den Genuss einer speziellen Schutzmaßnahme